Wie funktioniert die türkische Familie?
Zusammenhalt der Türken in der Diaspora
Wenn ein Türke von seiner Familie spricht, dann meint er nicht nur Mutter-Vater-Geschwister. Nein, dann sind die Tanten, Onkel, Großeltern, Großtanten und -onkel, Cousins und Cousinen, Neffen, Nichten, Schwager und Schwägerinnen – einfach ALLE gemeint. Die eben aufgezählten werden zur engen Familie gezählt. Alle anderen, die nur ein Quantum Blutsverwandschaft aufweisen, gehören auch zur Familie. Die Bedeutung von Familienzugehörigkeit und -zusammenhalt ist ein essentieller Bestandteil der türkischen Kultur und Tradition.
Vor mehr als 50 Jahren kamen die ersten Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland. Anfangs waren sie alleine. In ihren Dörfern und Kleinstädten wurden Frau und Kind zurückgelassen. Wochen und Monate vergingen, ehe man voneinander etwas hören konnte. Ein unbekanntes Land, eine Sprache, die man nicht sprach, andere Sitten und Gebräuche, das war schwierig zu bewältigen. Doch noch schwieriger fiel es den Menschen damals, von ihren Freunden und ihrer Familie fern zu sein, nicht zu wissen, wie es ihnen ging.
Aus Leidensgenossen wird Familie
Man freundete sich mit den Arbeitskollegen an, die das selbe Leid zu ertragen hatten. Tagsüber wurde hart gearbeitet und abends verlieh man der Sehnsucht, die das Herz bewohnte, eine Sprache. Dert ortağı - Leidensgenossen nennt man sie auf Türkisch. Mit ihnen wurde das neue Land erkundet, mit ihnen wurde gearbeitet, gefeiert, getrauert und gelacht. Sie verstanden den Schmerz, halfen bei Not und waren ein Stückchen Heimat in der Fremde.
Nach und nach ließ man Frau und Kinder aus der Türkei nachholen. Sie wurden auch miteinander bekannt gemacht. Mit der Zeit entstand eine der größten Diasporen Europas und aus den ehemaligen Leidensgenossen der ersten Stunde wurden Familien. Gemeinsam führen sie Traditionen fort und halten die Kultur am Leben. Sie unterstützen sich und schenken sich Liebe. Ihre Wurzeln in der alten Heimat sind meist völlig unterschiedlich und doch nennt man sie Onkel, Tante, Bruder, Schwester.
Der Familienbegriff hat sich verändert
Ich gehöre zur dritten Generation, inzwischen ist sogar schon die vierte da. Die Nachbarschaft, in der ich geboren bin, ist voll von Menschen die zwar keinerlei Blutsverwandschaft mit mir haben, die ich allerdings als Familie kennengelernt habe. Das geht vielen Deutschtürken so, denn im Laufe der Zeit hat sich der Begriff Familie geändert. Die Vorstellung, wer zur Familie gehört und wer nicht, ist eine ganz neue.
Menschen, die einem durch schwierige Zeiten geholfen haben, Menschen, die in der Trauer Trost gespendet und in der Freude miteinander gelacht haben, Menschen, die zusammen ein neues Leben in einem fremden Land aufgebaut haben, gehören ebenfalls zur Familie. Aus diesem Grunde, sind deutsche Straßen an Bayram (Opfer- oder Ramadanfest) überfüllt mit Autos der Deutschtürken, die sich auf den Weg zu älteren Familienmitgliedern machen, um ihnen ihren Respekt zu zollen und ihnen ein Glücksgefühl zu geben.
Aus diesem Grund brauchen die wenigsten älteren Türken einen Pfleger, der sie ins Krankenhaus fährt und sie pflegt, wenn mal die eigenen Kinder nicht können. Aus diesem Grund gibt es immer einen Onkel und eine Tante, bei dem das Kind bleiben kann, wenn die Eltern verreist oder krank sind. Aus diesem Grund, sind teilweise die Menschen in der alten Heimat, die einem als Familie vorgestellt werden, viel fremder als die Menschen in Deutschland, die keinerlei Blutsverwandschaft mit einem haben und doch so viel mehr miteinander teilen.
In einer Zeit, in der Egoismus hoch gepriesen und sogar verteidigt wird, verlieren Familienbanden immer mehr an Bedeutung. Besonders im Westen ist dieser Trend weit verbreitet. Der Mensch allerdings ist ein soziales Wesen und braucht diese Beziehungen. Die Transformation der Familie im Falle der Deutschtürken ist ein essentielles Beispiel dafür.