„Bilanz und Erbe einer Kanzlerschaft" – Ein kritischer Blick auf Angela Merkel

  14 Januar 2019    Gelesen: 1246
 „Bilanz und Erbe einer Kanzlerschaft" – Ein kritischer Blick auf Angela Merkel

Was bleibt, wenn die Kanzlerin geht? Wie hat sich Deutschland in der Ära Merkel verändert? Diesen und weiteren Fragen hat sich der Autor Stephan Hebel in seinem neuen Buch "Merkel - Bilanz und Erbe einer Kanzlerschaft" gewidmet. Sein Fazit: Mit einer anderen Politik hätte es vielen Menschen in Deutschland heute besser gehen können.

Herr Hebel, Sie haben sich in ihrem aktuellen Werk eingehend mit der Kanzlerschaft Angela Merkels befasst und auch einen Ausblick auf die kommenden Jahre gewagt. Warum?

Es ist mir ein dringendes Anliegen gewesen. Nicht nur, weil ich auf die Ära Merkel zurückblicken wollte, sondern weil ich eben auch einen Ausblick wagen wollte. Ich glaube, dass diese Jahre unter Angela Merkel ein Erbe hinterlassen, dass Deutschland noch lange prägen wird, dass Deutschland auch noch lange Probleme machen wird.  

Nun betont natürlich immer wieder vor allem die CDU, Deutschland sei während der Kanzlerschaft Merkels sicherer, reicher, gerechter und innovativer geworden. Dem stimmen Sie aber nicht zu…

Nein. Ich versuche in meinem Buch an mehreren Stellen zu zeigen, dass die Spaltung der Gesellschaft, die übrigens vor allem auch der politischen Rechten und der AfD Räume öffnete, in der Zeit unter Angela Merkel eher zugenommen hat, als abgenommen. Das kann man an sehr vielen Themenbereichen nachweisen.  

Also ginge es vielen Deutschen ohne Merkel und mit einer anderen Sozialpolitik wirklich besser?

Ich glaube ja. Es könnte vor allen Dingen den Menschen besser gehen, denen es in diesem Land am schlechtesten geht. Ich sage direkt dazu: Misst man es an den meisten anderen Ländern in Europa und dessen Umfeld, dann geht es Deutschland insgesamt wirklich nicht schlecht. Aber 47 Prozent der Menschen am unteren Ende der Einkommensskala, die von dem Wirtschaftsaufschwung der vergangenen Jahre nichts in ihrem Portemonnaie gespürt haben, denen geht es eben nicht besser. Um die hat sich die Politik Merkels nicht gekümmert. Und zwar deshalb, weil sie einen Begriff von Wirtschafts- und Sozialpolitik hat, der auf eine bestimmte Form von Wettbewerbsfähigkeit setzt. Diese besteht darin, dass sich Staaten so verhalten, als wären sie Unternehmen und möglichst die Kosten senken, um ihre Exporte zu steigern.

Das mag den Gesamtwohlstand in Deutschland noch für eine bestimmte Zeit lang gesichert haben, aber es schafft erstens international wirtschaftliche Ungleichgewichte und es geht zweitens im Land selbst auf Kosten derjenigen, die eigentlich am meisten Hilfe bräuchten. Hätte man also eine andere Wirtschafts- und Sozialpolitik in Deutschland gemacht, könnte es vielen Deutschen tatsächlich besser gehen. Und zwar denen, die es am dringendsten bräuchten.   

Innerhalb der Kanzlerschaft Merkels gibt es den bekannten Meilenstein rund um das Jahr 2015 und der Wende in der Flüchtlingspolitik. Welchen Stellenwert nimmt dieses Ereignis für Sie ein?

Dieses Ereignis war nicht die Ursache, sondern der Auslöser für die Unantastbarkeit Angela Merkels. Die Brüche in der Gesellschaft, die große Schere zwischen Arm und Reich, die unter der Immobilienspekulation leidende Wohnungsbranche, alles das hat es vor 2015 auch schon gegeben. Aber der Ärger, die Enttäuschung und die Wut vieler Menschen über diese Situation — über die "Entsicherung" der sozialen Verhältnisse — hat sich dann ausgerechnet auf Kosten der Flüchtlinge Bahn gebrochen, die nun am allerwenigsten für diese Brüche können. Insofern war 2015, was Angela Merkel und ihre bis dahin erstaunliche Unantastbarkeit in der öffentlichen Meinung angeht, ein Wendepunkt. Da fing sie an zu wanken und zu wackeln und fast schon zu kippen.

Aber ich sag es noch einmal: Aus meiner Sicht ist das der falsche Grund, Angela Merkel zu kritisieren. Aus meiner Sicht ist die Politik, die sie lange vorher schon betrieben hat, der eigentliche Grund für die Kritik. Und eines noch zu 2015: Die Flüchtlingspolitik, die Deutschland unter Angela Merkel betrieben hat, aber auch schon unter ihren Vorgängern, hat darauf gesetzt, dass die EU-Länder am Rand der Europäischen Union mit den Ankommenden „fertig werden müssen“. Währenddessen hatte fast niemand mehr eine Chance, bis in ein Binnenland wie Deutschland vorzudringen.

Ich hatte schon im April 2015 vorgeschlagen, dass Deutschland unter anderem angesichts des Krieges in Syrien Verantwortung übernehmen sollte und eine nennenswerte Zahl von Geflüchteten freiwillig aufnehmen sollte. Hätte man das freiwillig und sehr geordnet getan und hätte man den Menschen in Deutschland gesagt, dass dies nicht auf deren Kosten gehen wird, dass man für Zugezogene und Eingewanderte gleichermaßen genügend Wohnungen und Schulen und soziale Leistungen vorhält, hätte man das organisiert getan, dann hätte man vielleicht auch die Akzeptanz für die Einwanderung — die es nun einmal gibt — gesteigert. Das hat man in Deutschland aber nie gemacht. Und als dann eine Million vor den Grenzen standen, hat man es in einem relativ chaotischen Verfahren durchgezogen. Das hat den Ärger noch gesteigert, den ich nicht für berechtigt halte: Die Flüchtlinge nicht schuld an den Brüchen in der deutschen Gesellschaft.

Ein weiteres Phänomen, das auch mit der Flüchtlingspolitik zusammenhängt, ist der Aufstieg der AfD während der Kanzlerschaft Merkels. Welchen Anteil hat Merkel daran gehabt? Und ist dieser Aufstieg „nur“ der Kanzlerin geschuldet?

Man sollte es ganz bestimmt nicht auf eine Person alleine zuspitzen. Die Politik Merkels, ein Neoliberalismus mit einigen wenigen Modernisierungselementen, ist in Deutschland leider fast vollständig überparteilich betrieben worden. Und das hat dazu geführt, dass bei Menschen die nicht so denken wie die AfD — und das tue ich beileibe nicht — manchmal der Eindruck entstehen kann, dass es keine politischen Alternativen in diesem Land mehr gibt. Ich würde übrigens jeder Regierung in diesem Land raten, die Finger von der AfD zu lassen.  Aber diese Unzufriedenheit, dieses Gefühl der Alternativlosigkeit, hat diejenige Partei, die behauptet sie sei die einzige Alternative, leider bestärkt. Insofern tragen alle Parteien eine Verantwortung, auch zum Beispiel die Sozialdemokratie, die längst hätte aufhören müssen, sich in die Gefangenschaft der großen Koalition zu begeben.   

Auch außenpolitisch hat sich während der Kanzlerschaft Merkels seit ihrem Vorgänger Gerhard Schröder viel getan. Wie hat sich die internationale Stellung Deutschlands unter Merkel in dieser Zeit verändert?

Ich glaube nicht, dass sich die internationale Stellung Deutschlands radikal verändert hat. Ich glaube aber, dass sich internationale Beziehungen in Europa und Umgebung leider in einer Weise verschärft haben, die auch die Regierung Merkel nicht verhindert hat. Ich bin jemand, der immer für Folgendes plädiert hat, reden wir über das Verhältnis Deutschlands zu Russland: Das ist ein wirklich zentraler Punkt der deutschen Außenpolitik. Eine Debatte die daraus besteht, dass eine Seite sagt „Die NATO ist böse und Russland ist gut“ und die andere Seite sagt „Die NATO ist gut und Russland ist böse“, diese Debatte wird den Spannungen und Konflikten, die es in diesen Beziehungen gibt, überhaupt nicht gerecht.

Ich sage, die NATO betreibt eine Politik, die für ein Bündnis welches sich für den Wahrer der westlichen Werte hält, viel zu aggressiv ist. Um ein Beispiel zu nennen, das ich auch in meinem Buch erwähne: Dass man im Baltikum NATO-Soldaten stationiert und eine Art Rotationsprinzip einführt, um das Versprechen an Russland einer Nichtstationierung von festen Soldatentruppen zu umgehen, halte ich für eine grundfalsche Politik. Ich sag aber auch dazu: Wer das kritisiert, sollte nicht aufhören auf die politischen Fehler und die aggressiven Verhaltensweisen von Russland zu gucken.

Warum sind wir in Deutschland nicht in der Lage, unseren kritischen Geist auf beide Seiten zu richten? Ich hätte mir sehr gewünscht, dass Deutschland hier die Initiative ergriffen hätte, in der Tradition von Willy Brandt wieder eine echte Entspannungspolitik aufzulegen. Das ist in der Ära Merkel überhaupt nicht passiert, sondern sie laviert zwischen einem Versuch, die Drähte nach Moskau wenigstens einigermaßen aufrecht zu erhalten einerseits und einer Beteiligung der in großen Teilen zu aggressiven Politik der NATO andererseits. Das ist mir zu wenig. 

Hat Angela Merkel eigentlich, wie von einigen Journalisten behauptet, von Anfang an eine politische Agenda – also einen Masterplan – gehabt, den sie in ihrer Zeit in kleinen Schritten abgearbeitet hat?

Ich bin sehr vorsichtig mit solchen Spekulationen, wenn ich keine Belege dafür habe. Ich bin aber sicher, dass Angela Merkel — mehr als viele glauben — schon immer eine politisch-ideologische Agenda gehabt hat. Ich glaube, dass Angela Merkel auch aus ihrer Biografie heraus den Kapitalismus und eine in weiten Teilen das Kapital unterstützende Politik für das richtige und das beste aller Systeme hält. Man schaue nur auf die Unterstützung der Autoindustrie. Sie ist nicht die, die mal ein bisschen sozialdemokratischer ist, mal ein bisschen überzeugungslos und mal das Land einfach ordentlich verwaltet. Sie ist eine, die aus tiefer Überzeugung eine viel zu wirtschaftsfreundliche Politik macht. Aber sie hält das für das Selbstverständlichste der Welt.

Man muss ihr also weder einen Auftrag erteilen, so zu handeln, noch hat sie eine geheime Agenda. Man muss sich nur die Ergebnisse ansehen und das mache ich in meinem Buch ausführlich. Dann wird man sehen, dass dies eine Politik ist, die sich das Kapital und die Wirtschaft nur hätte wünschen können. Gerade deshalb, weil alle Welt denkt, Angela Merkel wäre ja eigentlich für alle da und auch ein bisschen sozialdemokratisch. Gerade weil sie dieses Image hat, konnte sie diese neoliberale Politik noch besser durchführen — leider.    

Bleibt die Frage, was kommt nach Angela Merkel? Da ist Deutschland aktuell gespalten. Einige sagen, wir werden uns in fünf bis zehn Jahren nach Merkel zurücksehnen. Andere behaupten, nach der Kanzlerin kann erst ein wirklicher Aufbruch beginnen. Was erwarten Sie?

Ich habe die Befürchtungen, dass es in es der deutschen Politik nach Merkel noch weiter nach rechts gehen könnte. Aber ich werde den Satz "Wir werden uns nach Merkel zurücksehnen" niemals unterschreiben. Weil dieser Satz entsteht aus einer furchtbar defensiven Haltung heraus. Nur zu sagen, wir finden die Scheidende gut, weil die Hinterherkommenden noch schlimmer werden, so möchte ich nicht denken.

Es könnte in diesem Land einen Aufbruch geben, das müsste aber jetzt beginnen. Es müssten sich die Parteien der im weitesten Sinne Linken endlich aufraffen, wieder zu verstehen, dass die wirkliche Demokratie eine offene Debatte über echte politische Alternativen braucht. Und das darf nicht dazu führen, dass am Ende alles was sich noch halbwegs demokratisch nennt als Einheitsbrei der rechten Bedrohung gegenüber steht. Deshalb sage ich: Gemeinsam mit so vielen Bewegungen, die es in der Bevölkerung gibt, müssten sich die eher linken Parteien aufraffen, wieder echte Alternativen zu formulieren. Und was die Sozialdemokratie angeht: Das wird aus der großen Koalition heraus nicht gehen, die müssen sie verlassen.

Marcel Joppa

sputniknews


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