Politiker warnen: Wenn bekannt wird, dass die Grenzen dicht gemacht werden (könnten), würde das einen noch größeren Ansturm von Flüchtlingen auslösen. Das fürchten Berater aus Merkels Umfeld, wie die "Bild" berichtet.
Das Problem, das sie sehen: An der Grenze würden sich wesentlich größere Massen an Flüchtlingen als sonst anstauen. Sie müssten frierend in der Kälte ausharren, vielleicht über Nacht oder Tage.
Ob es dann ausreichend Versorgung mit Decken oder einem Dach über dem Kopf gäbe, wäre fraglich. Was außer Frage steht: Eine solche Behandlung wäre unmenschlich. Kanzlerin Merkel fürchtet sich vor solchen Bildern:
2. Finanzieller und logistischer Mega-Aufwand
Um die Folgen zu lindern, müsste Deutschland die Grenzen quasi über Nacht schließen. Das würde eine Menge geheime Organisation im Voraus bedeuten.
Vor allem die Kontrolle an den „grünen Grenzen“ wäre ein großes Problem, sagt Karl-Heinz Grundböck, Sprecher des österreichischen Innenministeriums, im Gespräch mit der Huffington Post. Die komplette Landesgrenze zwischen Deutschland und Österreich hält er für „nicht lückenlos sicherbar“.
Auch Anne Koch, Europa-Expertin von der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (SWP), betont, dass eine dauerhafte Überwachung der Grenzen „schwer realistisch umsetzbar“ sei. Man könne das nicht mit einem ungarischen Grenzzaun vergleichen, da Deutschlands Grenze deutlich größer sei, sagt sie im Gespräch mit der Huffington Post.
Sie ist sich sogar sicher, dass der eigentliche Effekt von einer Grenzschließung verfehlt würde. Wenn die organisierten Einreisemöglichkeiten verringert würden, würde Flüchtlinge andere Wege finden. „Wozu geschlossene Grenzen Leute bewegen können, haben wir Deutschen mit der Ost/West-Teilung zur genüge gesehen“, mahnt Koch vom SWP.
Sie verurteilt vor allem den „immensen finanziellen Aufwand“, den eine Grenzschließung erfordert. „Da gäbe es jede Menge bessere Anwendungsmöglichkeiten für die Mittel.“
Alexander Graf Lambsdorff (FDP), Vizepräsident des Europaparlaments, zeigt mit etwas mehr Humor, für wie unrealistisch er solche Ideen hält:
3. Kettenreaktion in anderen Ländern
Eine „ dramatischen Kettenreaktion“ der Durchreiseländer auf den Flüchtlingsrouten befürchtet SWP-Expertin Koch. Eine Grenzschließung der Deutschen würde einen „immensen Druck“ bei anderen EU-Ländern aufbauen, dasselbe zu tun. Was Deutschland kaum mehr schultern kann, ist für diese Länder unmöglich zu schaffen, da sie deutlich kleiner und finanzschwächer sind.
Letztlich würde wohl Griechenland als EU-Land „am Ende der Kette mit dem Problem alleingelassen“, sagt Koch. Und das, obwohl der Staat mit seinem Asylsystem gerade auf einem guten Weg ist. Durch seine geografische Lage mit vielen Inseln ist es hier eigentlich unmöglich, die Grenzen zu schließen. Deutschland müsse mit gewaltigen Anstrengungen das Land unterstützen - oder es droht, im Chaos zu versinken.
Wer verstehen will, wie andere Länder reagieren würden, muss Grundböck vom österreichischen Innenministerium zuhören. Er gibt offen zu: „Jede Änderung in der deutschen Praxis hat unmittelbare Auswirkungen auf Österreich.“
Die Vergangenheit sei dafür beispielhaft: Als Deutschland im September Grenzkontrollen eingeführt hat, hätte sich auch Österreich gezwungen zu sehen. Ebenso sei es mit der neuen Einreisepraxis der BRD seit dem neuen Jahr. Da weniger Menschen aus Österreich nach Deutschland gelangen könnten, müsse Österreich gleiche Überlegungen anstellen.
Wenn Deutschland die Grenzen dichtmachen würde, „müsse Österreich nachziehen“. Das Problem werde damit an Slowenien oder die Schengen-Außengrenzen weitergetragen und es käme dann auf eine gute Zusammenarbeit an.
4. Pendeln zwischen den Ländern wird wesentlich schwieriger
Aber auch in Deutschland würde sich einiges ändern. Grenzüberschreitendes Arbeiten, zum Beispiel das tägliche Pendeln, würde durch die stundenlange Staus an den Grenzen zeitlich schwierig bis unmöglich werden. Und auch in unserer Reisefreiheit würde es uns einschränken. Eine Grenzschließung sei also ein „Nachteil für alle Mitglieder“ der EU und der Bevölkerung, so Koch. „Faktisch ist es das Ende von Schengen“.
5. Gewaltige Folgen für die Wirtschaft
Auch der Lieferverkehr wäre beeinflusst. Jeder LKW müsste an der Grenze kontrolliert werden, damit er nicht heimlich Menschen an Bord hat. Und mit den zeitlichen Verzögerungen an der Grenze kann hier schnell Geld verloren gehen. Koch spricht von „immensen wirtschaftlichen Auswirkungen“.
Ein Beispiel: Viele Teile für die Automobilindustrie werden im Ausland gefertigt, der Zeitplan ist meist sehr knapp. Auch das Obst und Gemüse, das aus Spanien geliefert wird, könnte schlecht werden.
Die Logistik und die Kühlung müsste angepasst an die längeren Lieferzeiten verändert werden, was letztlich auch höhere Preise für uns im Supermarkt bedeutet, folgert Koch.
Opfer sind laut Armin Laschet, Vorsitzender der CDU Nordrhein-Festfalen, die mittelständischen Unternehmen.
Außerdem liegt die Bundesrepublik im Herzen Europa, viele Lieferrouten in andere Länder führen durch Deutschland. Die Entscheidung hätte also gewaltige wirtschaftliche Nachteile.
Gegenüber der „Bild“-Zeitung sagte Europa-Politiker Graf Lambsdorff (FDP), die offenen Schengen-Grenzen seien für den Wirtschaftsstandort Deutschland entscheidend. "Stundenlange Lkw-Staus auf dem Weg von und nach Frankreich, Polen oder Holland würden wichtige Wertschöpfungsketten zerstören."
Auch Kanzlerin Merkel, Finanzminister Wolfgang Schäuble und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker warnten davor, dass die Aufgabe des Schengenraums gravierende Folgen für den Binnenmarkt und die Eurozone hätte.
6. „Geist der EU“ in Gefahr
Neben der Wirtschaft würde eine deutsche Grenzschließung laut Europa-Expertin Koch auch „gegen den Geist der EU“ gehen. Es würde ein „Signal an ganz Europa“ senden und einen „drastischen Rückschritt" bedeuten.
Erstens würden Staaten zunehmend der Vertrauen ineinander verlieren. Die EU-Kommission mahnte sogar, dass es den Euro und ein freies Europa zum Scheitern bringen könnte. Der EU-Ausstieg von Großbritannien würde wesentlich wahrscheinlich werden.
Es wäre auch langfristig schwerer, den Geist der EU vor allem an junge Bürger zu vermitteln, wenn die Vorteile für den einzelnen wie die Reisefreizügigkeit wegfallen.
Der Zusammenhalt ist laut Koch aber genau das Nötige, um die Flüchtlingskrise zu bewältigen.
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