Der Schauspieler und politische Quereinsteiger Wolodymyr Selensky wird ersten Hochrechnungen zufolge neuer Präsident der krisengeschüttelten Ukraine. Der prowestliche 41-Jährige kam demnach bei der Stichwahl in der Ex-Sowjetrepublik am Sonntag nach acht Prozent ausgezählter Stimmen auf etwa 73 Prozent der Stimmen. Amtsinhaber Petro Poroschenko kann mit knapp 25 Prozent der Stimmen rechnen, wie mehrere Fernsehsender unter Berufung auf verschiedene Meinungsforschungsinstitute in Kiew berichteten. Es gab demnach einige ungültige Wahlzettel. Am prowestlichen Kurs der Ukraine dürfte sich nichts ändern. Mit aussagekräftigen Ergebnissen wird in der Nacht zum Montag gerechnet. Bereits kurz nach dem Schluss der Wahllokale räumte Poroschenko seine Niederlage ein. Er gratulierte seinem Herausforderer Sieg. "So gehört es sich. So ist es in demokratischen Ländern üblich", sagte Poroschenko. Zugleich betonte er: "Ich werde weiter in der Politik bleiben und für die Ukraine kämpfen". Der 53-Jährige rief seinen Anhängern zu, niemals aufzugeben.
Die Wahl ist in mehrfacher Hinsicht historisch: Mit Selensky kommt in dem Land zwischen der EU und Russland erstmals ein Staatsoberhaupt ohne jedwede Regierungserfahrung ins Amt. Es wäre auch das höchste Ergebnis, das je ein Präsident der unabhängigen Ukraine erzielt hat. Selensky, der jüngste Präsident der ukrainischen Geschichte, strebt wie Poroschenko einen EU-Beitritt an. Über einen umstrittenen Nato-Beitritt der Ukraine soll eine Volksabstimmung entscheiden.
Dagegen musste der zuletzt noch in Berlin von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) empfangene 53-Jährige Poroschenko nach fünf Jahren im Amt eine Niederlage hinnehmen. Er hatte einen antirussischen Wahlkampf geführt. Poroschenko warnte davor, dass der russische Präsident Wladimir Putin sich das Land unterwerfen wolle. Selensky wies dabei Vorwürfe zurück, eine russische Marionette zu sein.
Ein Populist - ohne echtes Programm?
Der Oligarch Poroschenko war nach den proeuropäischen Protesten auf dem Maidan - dem Unabhängigkeitsplatz - in Kiew vor fünf Jahren der große Hoffnungsträger der EU und der USA. Er hatte bereits vor der sich abzeichnenden Wahlschlappe gesagt, jedes Wahlergebnis zu akzeptieren. "Ich verlasse mich auf die Weisheit des ukrainischen Volkes", sagte er am Wahltag.
Der in seiner Heimat gefeierte Showstar Selensky spielt seit Jahren einen Präsidenten der Comedy-Serie "Sluga Naroda" - zu Deutsch: Diener des Volkes. Wie in der Serie des Fernsehsenders 1+1, in der ein Geschichtslehrer überraschend Staatschef wird, will er nun als "einfacher Mensch", wie er sagt, das von Korruption geprägte System in seiner Heimat zerstören. Er hat zudem erklärt, alles für ein Ende des Krieges im Osten der Ukraine zu tun. Er zeigte sich auch bereit zum Dialog mit Russland.
Kritiker werfen dem Komiker vor, ein Populist ohne echtes Programm für die Zukunft des Landes zu sein. Immer wieder Thema ist auch Selenskys Nähe zu dem Oligarchen Igor Kolomoiski, der mit seinem TV-Kanal 1+1 Stimmung gegen Poroschenko machte.
Das zwischen ukrainischen Nationalisten und russlandfreundlichen Bevölkerungsteilen hin und her gerissene Land zu einen, dürfte zu den schwierigsten Aufgaben des neuen ukrainischen Präsidenten gehören. Viele Menschen hoffen auf mehr Wohlstand - vor allem aber auf steigende Löhne und Renten sowie sinkende Lebenshaltungskosten.
Erster Präsident ohne Machtbasis
Zehntausende Polizisten sicherten die gut 30.000 Wahllokale. Vor der Stimmabgabe von Selensky entblößte sich eine Aktivistin der ukrainischen Frauenrechtsgruppe Femen. Mit nacktem Oberkörper protestierte die hochschwangere Frau gegen den Favoriten und sagte: "Selensky ist eine Katze im Sack." Niemand wisse, in welche Richtung die Ukraine unter ihm steuere.
Der Sieg des Schauspielers war zwar nach Umfragen der vergangenen Wochen erwartet worden. Unklar ist aber, wie er die hohen Erwartungen der Bevölkerung erfüllen kann. Er stützt sich zwar auf eine nach seiner Fernsehsendung benannte Partei. Vertreten ist diese aber bisher nicht im Parlament.
Selensky wäre damit auch der erste Präsident ohne eine eigene Machtbasis. Bis zum Amtsantritt hat er noch einige Wochen Zeit. Er hält es für möglich, dass er angesichts unklarer Machtverhältnisse in der Obersten Rada die eigentlich für Oktober vorgesehene Parlamentswahl vorzieht.
spiegel
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