Die Europäische Union macht sich auf eine wichtige Festigkeitsprüfung gefasst: Im Mai findet die nächste EU-Parlamentswahl statt, bei der vermutlich die EU-skeptischen Kräfte gut abschneiden werden. Selbst wenn sie nicht die größte Fraktion bilden können, werden sie Brüssels Politik mehr beeinflussen als jetzt und können nicht mehr einfach ignoriert werden.
Im Herbst müssen der EU-Kommissionspräsident und der EU-Ratspräsident neugewählt werden: Die Amtszeiten von Juncker und Donald Tusk laufen am 1. November bzw. 1. Dezember ab. Während der Posten des EU-Präsidenten eher formell ist (zudem wird er von den Ratsmitgliedern, also von den Staats- und Regierungsoberhäuptern der 28 EU-Länder gewählt), muss der EU-Kommissionschef (sprich Ministerpräsident des einheitlichen Europas) vom EU-Parlament gebilligt werden. Im neuen Parlament wären gewisse Überraschungen nicht ausgeschlossen – der derzeit bestehende Plan könnte also scheitern.
Vorerst gilt Manfred Weber als wichtigster Anwärter auf den Posten des EU-Kommissionspräsidenten. Aktuell steht der 46-jährige Bayer an der Spitze der größten Fraktion der Europäischen Volkspartei, die übrigens auch Juncker vertritt, der aber nicht länger im Amt bleiben darf (und will).
Weber genießt die Unterstützung nicht nur der EVP, sondern auch Berlins, und falls die Partei auch künftig die größte Fraktion im EU-Parlament stellen wird (wenn auch mit weniger Sitzen), wird sie die Ernennung ihres Vertreters voranbringen. Wichtig ist auch, dass angesichts der von den EU-Skeptikern ausgehenden Gefahr auch die zweitgrößte Fraktion – die Sozialisten – den EVP-Kandidaten unterstützen wird.
Und sollte auch das nicht genügen, würde man wohl auch die „europäischen Liberalen“ heranziehen. Es ist klar, dass ein Erfolg der EU-Skeptiker (von Marine Le Pen bis Matteo Salvini) für die Anhänger der Integrationsideen unangenehm wäre – aber vorerst gehen sie davon aus, dass sie ihn verkraften werden.
Aber auf dem Weg zu Webers Präsidentschaft in der EU-Kommission ist plötzlich ein potenzielles Hindernis entstanden: Jean-Claude Juncker schloss nicht aus, dass den Posten Merkel übernehmen wird.
„Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass Angela Merkel in der Versenkung verschwindet“, sagte Juncker am Samstag in einem Interview für die Funke Mediengruppe. „Sie ist nicht nur eine Respektsperson, sondern ein liebenswertes Gesamtkunstwerk.“
Der Luxemburger hob Merkels hohe Qualifikation hervor und zeigte sich überzeugt, dass sie den EU-Führungsposten übernehmen könnte.
Das könnte nämlich der erste Schritt zur Vorbereitung der Öffentlichkeit auf einen baldigen „Umstieg“ der Bundeskanzlerin sein. Denn zwar läuft ihre Amtszeit erst im Herbst 2021 ab, aber es könnte dazu kommen, dass Merkel den Kanzlerposten früher räumt. Zwei Szenarien ihres Rücktritts wären möglich: Erstens könnten die Sozialdemokraten als Koalitionspartner entscheiden, dass die Allianz mit Merkel schädlich für die SPD ist; und zweitens könnten die CDU und die Kanzlerin persönlich beschließen, dass es für sie an der Zeit ist, sich zu verabschieden.
Die zweite Variante wäre durchaus möglich, und zwar sowohl ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl (also im Herbst 2020) als auch noch früher – falls die CDU-Führung sieht, dass die Union weiter Wähler verliert. Natürlich sind für sie die Ergebnisse der Landtagswahlen prinzipiell wichtig, aber auch die EU-Parlamentswahl wird eine große Bedeutung haben, vor allem aus psychologischer Sicht.
Falls die AfD besser und die CDU schlechter abschneiden sollten, könnte Merkel ihre Entscheidung treffen, ohne die Ergebnisse der nächsten Landtagswahlen abzuwarten. Dann wäre Annegret Kramp-Karrenbauer, der Merkel bereits die Führung in der Union überlassen hat, ihre Nachfolgerin.
Ein solches Szenario scheint durchaus realistisch, egal wie Merkel ihr Zukunft plant. Und die jüngste Aussage Junckers verleiht dieser Situation eine besonders „Würze“: Sie könnte also nicht die große Politik verlassen, sondern nur „den Sessel wechseln“.
Zwar sagte Merkel wiederholt, sie hätte nach dem Aus als Kanzlerin keine Lust auf ein anderes Amt. Aber was wäre, wenn man sie „sehr bitten“ würde, das einheitliche Europa vor den Populisten und EU-Skeptikern zu retten?
Natürlich gibt der Posten des EU-Kommissionspräsidenten keine Möglichkeit, das ganze Europa zu regieren – aber das ist Stand heute. Es ist immerhin eine Sache, wenn ihn ein früherer Ministerpräsident Luxemburgs bekleidet, und eine ganz andere, wenn an die Spitze der europäischen „Regierung“ eine frühere deutsche Bundeskanzlerin vorrücken würde, die als solche mehr als 15 Jahre lang fungierte.
Hinzu kommt, dass nach dem Brexit das inoffizielle Verbot abgeschafft wird, dass den Führungsposten in der EU-Kommission ein Deutscher bzw. eine Deutsche übernimmt. Es ist immerhin ein offenes Geheimnis, dass die Briten, die immer den Status der zweiten Führungskraft in der EU beanspruchten, nicht nur keinen Repräsentanten der Bundesrepublik an der Spitze der EU-„Regierung“ sehen wollten und auch den „prodeutschen“ Luxemburger Juncker oft kritisierten.
Nur einer von insgesamt zwölf EU-Kommissionspräsidenten war in den 60 Jahren ihres Bestehens ein Bundesbürger: Walter Hallstein in den Jahren 1958 bis 1967. Aber damals war Großbritannien nicht einmal Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.
Aber wirklich wichtig wurde der Posten des EU-Kommissionspräsidenten erst in den 1990er Jahren, als ein neues Niveau der europäischen Integration erreicht wurde, und in den 2000ern, als der Euro eingeführt wurde. In den letzten 25 Jahren, nach dem Abschied des Franzosen Jacques Delors, bekleideten ihn zwei Luxemburger, ein Portugiese und ein Italiener. Sie alle waren ehemalige Ministerpräsidenten ihrer Länder – also angesehene und einflussreiche Politiker. Aber, wie gesagt, stand nie ein Vertreter eines der drei stärksten EU-Länder (Deutschland, Frankreich, Großbritannien) an der Spitze der EU-Kommission.
Jetzt, nach dem Brexit, scheint der Weg für den Deutschen Manfred Weber frei zu sein. Aber warum sollte man einen üblichen Parteifunktionär zum EU-Regierungschef ernennen, wenn den Posten die Führungsperson der ganzen europäischen Politik übernehmen könnte?
Zwar verliert Merkel tatsächlich ihre Popularität unter den Bundesbürgern, aber ihr Land ist und bleibt die Führungskraft der EU-Integration (und auch ihr größter Nutznießer).
Es stimmt, dass die EU-Integration schwere Zeiten durchlebt, aber wer soll sie denn retten, wenn nicht die Person, die bereits so viel für die Aufrechterhaltung und Festigung der Europäischen Union getan hat? Und wenn man bedenkt, dass an der Machtspitze in Deutschland ihre Parteikollegin bleibt (jedenfalls vorerst), könnte Merkel praktisch gleichzeitig von Brüssel und Berlin aus das einheitliche Europa regieren.
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