"Ich hoffe, Sie haben einen Kandidaten gefunden, den Sie gerne zum nächsten Präsidenten der Europäischen Kommission machen würden", sagt Moderator Markus Preiß zum Abschluss der Veranstaltung in Richtung Publikum. Das dürfte tatsächlich die leichteste Übung sein: In der Debatte der europäischen Spitzenkandidaten am Mittwochabend präsentierte sich jede und jeder so, wie man es von der jeweiligen Parteienfamilie kennt.
Weniger deutlich wurde, wer nach der Europawahl tatsächlich Kommissionspräsident werden könnte. Manfred Weber, CSU-Vizechef und Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei, trat moderat und staatsmännisch auf. Nach der Debatte zeigte er sich bei einem kurzen Auftritt vor der Presse siegessicher. Er habe gehört, dass er den größten Redeanteil gehabt habe. Das sei auch kein Wunder, er habe schließlich die meisten Fragen der anderen Teilnehmer beantworten müssen. Offenbar werde allgemein erwartet, dass die EVP nach der Wahl in einer entscheidenden Position sein werde, freute er sich.
Das stimmt zwar: Die EVP kann damit rechnen, erneut die größte Fraktion zu stellen (siehe Grafik). Aber sie dürfte schrumpfen. Das gilt auch für die Sozialdemokraten, mit denen sie bislang eine informelle große Koalition gebildet haben. Um Kommissionspräsident zu werden, braucht Weber also mindestens eine weitere, besser zwei weitere Fraktionen auf seiner Seite.
Offerten an Linke und Grüne
Dass die Sozialdemokraten zumindest derzeit nicht einmal daran denken, Weber zu wählen, machte ihr Spitzenkandidat unmissverständlich klar. Der Niederländer Frans Timmermans war mit Abstand der kämpferischste Debattenteilnehmer. Grünen, Linken und auch den Liberalen von der Europapartei ALDE reichte er dabei die Hand. Er griff Weber für die Sparpolitik der EVP an und lobte den Linken Nico Cué sowie die Grüne Ska Keller für ihre klimapolitischen Anstrengungen im Europaparlament. "Lasst uns in den nächsten fünf Jahren zusammenarbeiten", sagte er an ihre Adresse.
Zugleich zeigte Timmermans sich überzeugt, er könne auch "viele in der liberalen Familie überzeugen", ein Bündnis zu schließen, das vom linken griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras bis hin zum französischen Präsidenten Emmanuel Macron reiche. Aber auch dieses Bündnis, wenn es überhaupt zustande käme, dürfte es schwer haben, die nötige Mehrheit zu erreichen.
Immerhin hatte Timmermans nicht nur den lebhaftesten Auftritt, von ihm kam auch der Satz des Abends. Als es um die Folgen des Rechtspopulismus ging, verwies er darauf, wie stark der Brexit Großbritannien gespalten habe. "Das Vereinigte Königreich wirkt heute wie Game of Thrones auf Steroiden." Weber kommentierte die Äußerung so: "Das ist die Schlagzeile von morgen." (Wie man oben sieht, hat Weber Recht behalten.)
Selbst der EU-Skeptiker lobt Vestager
Das sich anbahnende Patt zwischen Weber und Timmermans erhöht die Chancen für eine Politikerin, die keine echte Spitzenkandidatin ist und für das Europaparlament gar nicht kandidiert: Margrethe Vestager, EU-Kommissarin für Wettbewerb und als solche dafür bekannt, keine Angst vor mächtigen Gegnern zu haben - selbst der Spitzenkandidat der EU-skeptischen Allianz der Konservativen und Reformer in Europa (ACRE), der Tscheche Jan Zahradil, sagte, Vestager habe einen guten Job gemacht. In Dänemark gehört sie der sozialliberalen Partei Radikale Venstre an, die wiederum Teil der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa sowie der gleichnamigen Fraktion ist. ALDE hat keine Spitzenkandidatin gewählt, sondern ein "Team" von insgesamt sieben Spitzenkandidaten, dem sie angehört.
Wichtig ist der Status als Spitzenkandidatin, damit das Europaparlament sein Gesicht wahren kann: Die großen Fraktionen im Parlament haben sich nämlich darauf festgelegt, dass nur eine Person an die Spitze der EU-Kommission gelangen soll, die im Wahlkampf Spitzenkandidat war. Vorgeschlagen wird der neue Kommissionspräsident beziehungsweise die neue Kommissionspräsidentin vom Europäischen Rat, also von den Staats- und Regierungschefs. Viele von ihnen halten nicht so viel von dem Spitzenkandidaten-Konzept, darunter Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel. Aber gewählt werden muss der Präsident oder die Präsidentin am Ende vom Parlament.
Vestager trat zurückhaltend, aber souverän auf. Das passt zur ALDE-Fraktion, die ein Bündnis mit Macrons Liste "Renaissance" eingehen will und dann recht unterschiedliche Positionen wird integrieren müssen. Auch Vestager streckte die Hand aus, wenn auch nicht ganz so deutlich wie Timmermans. Wie die Grüne Ska Keller sprach sie den Klimawandel gleich in ihrem Eröffnungsstatement und auch später noch mehrfach an. Wie Manfred Weber lehnte sie einen europäischen Mindestlohn ab. Wie Frans Timmermans forderte sie eine europäische Untergrenze für Unternehmenssteuern. Mit Blick auf die Migrationspolitik sagte sie, Europa müsse im Mittelmeer Menschenleben retten und zugleich langfristige Lösungen finden, etwa durch ein europäisches Asylsystem. So viel dürfte sicher sein: Geschadet hat Vestager dieser Auftritt nicht.
Nach der Europawahl in der kommenden Woche könnte es sein, dass die Grünen von Ska Keller bei der Besetzung des Spitzenpostens der EU-Kommission mitreden - eine Chance darauf, selbst Kommissionspräsidentin zu werden, hat Keller nicht. Gleiches gilt für den spanisch-belgischen Linken Nico Cué sowie für den tschechischen EU-Skeptiker Jan Zahradil. Aus dem Lager der radikalen Rechtspopulisten um den italienischen Innenminister Matteo Salvini, dem auch die AfD angehört, nahm kein Vertreter an der Debatte teil - diese Gruppe will zwar nach der Wahl eine gemeinsame Fraktion bilden, hat derzeit aber weder einen europäischen Zusammenschluss noch einen Spitzenkandidaten.
Die Debatte im Brüsseler Plenarsaal des Europaparlaments firmierte wie die TV-Duelle in US-Wahlkämpfen als "presidential debate", ausgetragen wurde sie von der Eurovision - dem Sendernetzwerk, das derzeit auch den ESC in Tel Aviv ausrichtet. So unterhaltsam wie der Song Contest, wie "Game of Thrones" oder wie amerikanische Wahlkämpfe war die Veranstaltung nicht. Aber auch nicht langweilig, obwohl niemand ausfällig wurde. Das ist doch schon mal was.
Quelle: n-tv.de
Tags: