Der Rheinischen Post gab Claudia Zimmermann nun ein Interview, in dem sie ihre Aussagen präzisierte. "Unausgesprochen haben sich fast alle Journalisten über Jahre einen Maulkorb auferlegt, so wie auch die Polizei und die Politik. Wir haben doch alle die Tatsachen verschwiegen, political correctness falsch verstanden." Sie habe nur ausgedrückt, "was alle wussten", und habe es außerdem "eben so empfunden, dass man als Journalist in diesen Monaten, als die Flüchtlinge kamen und manche dann auch straffällig wurden, nicht allzu kritisch berichten sollte".
Nun haben Zeitungsinterviews gegenüber Live-Talkshows den großen Vorteil, dass der Befragte seine Worte genau abwägen und im Zweifelsfall korrigieren kann. Man verliert sich nicht so leicht in seiner eigenen Argumentationskette. Zimmermann allerdings argumentiert nicht, sie spricht über ihre Empfindungen. Als Journalistin, der an der Wahrheit gelegen sein sollte, bleibt sie ausgerechnet an jenen Stellen seltsam vage, an denen sie ungeheuerliche Enthüllungen andeutet. Wer hat welche Tatsachen verschwiegen? Inwiefern tragen Polizei und Politik einen Maulkorb? Was ist es genau, das nicht gesagt werden darf? Zimmermann verrät es nicht. Sie unterstellt nur, dass es alle wissen.
Einen Hinweis gibt eine Frage der RP-Journalistin Annette Bosetti, die das Interview geführt hat. Seit Paris und Charlie Hebdo habe sich die Sprachregelung geändert, sagt Bosetti. Bis dahin hätten "sich nahezu alle Journalisten im Westen zurückgehalten und Täter, wenn sie Ausländer waren, nur selten als solche bezeichnet". Woraufhin Zimmermann die Formulierung mit dem "selbst auferlegten Maulkorb" einfällt.
Mal in den Pressekodex schauen
Der selbst auferlegte Maulkorb, auf den sie anspielt, ist weder selbst auferlegt noch ein Maulkorb, sondern ein journalistischer Standard, der im Pressekodex unter Ziffer 12 so formuliert ist: "In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht." Wenn das Publikum mit dem deutschen Pressekodex nicht vertraut ist, ist das nicht weiter schlimm. Journalisten dürfen ihn schon kennen.
Der Verein Neue Deutsche Medienmacher, in dem sich junge Journalisten mit Migrationshintergrund organisieren, hat kürzlich vorgeschlagen, doch bitte wenigstens immer den Hintergrund des Täters zu nennen, wenn man es schon oft nicht lassen kann. Ab sofort sollte es also heißen: "Die aus Köln stammende, evangelisch getaufte, mutmaßlich atheistische und 2011 wegen Verleumdung verurteilte deutsche Steuerhinterzieherin Alice Schwarzer. Oder: Der 2014 verurteilte bayrische, katholisch sozialisierte, Steuerhinterzieher Uli Hoeneß." Das wäre natürlich nicht nur anmaßend, sondern auch irreführend. Und eigentlich sollte man das niemandem erklären müssen, der wie Claudia Zimmermann seit mehr als zwei Jahrzehnten als Journalistin tätig ist.
Weitere Hinweise darauf, welche Tatsachen "wir alle" verschwiegen haben sollen, finden sich in dem Gespräch nicht. Vielleicht will sich Claudia Zimmermann nicht selbst belasten. Schließlich hätte sie als Journalistin im großen Stil versagt, sollte sie ihrem Arbeitgeber und der Öffentlichkeit wissentlich Informationen vorenthalten haben. Illegal ist das nicht, nur eben ziemlich genau das Gegenteil dessen, was Journalisten beruflich so machen.
Wenn Journalisten ihren Job zu gut machen
Wahrscheinlicher ist etwas anderes: Es gibt offenbar auch im Journalismus Menschen, die aus Unsicherheit oder Denkfaulheit die Meinung ihrer Chefs zu antizipieren versuchen, sich deren Meinung zu eigen machen und hoffen, mit dieser Taktik Scherereien zu vermeiden. Bis zu einem gewissen Grad handeln alle nicht soziopathischen Menschen so: Sie passen ihr Verhalten dem gesellschaftlichen Konsens an. Sie essen mit Messer und Gabel, gehen nicht nackt auf die Straße und schlagen anderen Personen nicht mit einem Hammer auf den Kopf. Das ist kein selbst auferlegter Maulkorb, sondern erst einmal Zivilisation.
Auf Journalisten kommt es aber gerade dann an, wenn sich dieser Konsens verschiebt und es plötzlich als eine legitime Umgangsform verkauft wird, anderen mit einem Hammer auf den Kopf zu schlagen. Wenn demokratische Grundrechte wie die Unschuldsvermutung oder die Gewaltenteilung zur Disposition gestellt werden, wenn Bürgerrechte beschnitten und Menschen auf Basis ihrer Ethnie, Religion oder ihres Geschlechts vorverurteilt und um ihre Rechte gebracht werden. Dann müssen Journalisten darüber berichten, dann sind sie besonders wichtig.
Im gegenwärtigen Klima ist es jedoch eher so, dass Journalisten nicht nur in Pakistan und Somalia, sondern auch in Deutschland gerade dann angegriffen werden, wenn sie ihren Job gut machen. Wenn sie also Informationen sammeln, verifizieren und veröffentlichen und sich damit sichtbar und angreifbar machen, anstatt sie aus Opportunismus oder Bequemlichkeit zurückzuhalten. Natürlich kann man sein Berufsleben auch damit verbringen, nicht weiter aufzufallen, indem man nur das sagt, von dem man glaubt, dass es auch alle anderen sagen würden. Das ist in Redaktionen nicht anders als in jeder anderen Organisation. Und es hat ja auch sein Gutes: Immerhin stört man nicht.
Wenig hilfreich ist es allerdings, wenn man mit heroischer Geste seinen eigenen Opportunismus als Zwang ausgibt, den einem irgendjemand anders auferlegt hätte als man selbst. Was ist einer Journalistin zuzutrauen, die sich nicht einmal über gefühlte Anordnungen hinwegzusetzen vermag? Im besten Falle Unsichtbarkeit. Im schlimmsten Falle aber zieht sie all jene zu sich herab, denen sie bislang einfach nur nicht weiter aufgefallen ist.
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