In der Schlussphase eines engen Eishockeyspiels schickt jeder Trainer seine Besten aufs Eis. Bei der deutschen Nationalmannschaft ist es selbstverständlich, dass Leon Draisaitl, der Mann aus der NHL, zur auserwählten Formation gehört.
Das abschließende Vorrundenmatch bei der Weltmeisterschaft in der Slowakeiendete daher auch mit einem großen Draisaitl-Akt: Die Finnen hatten ihren Tormann durch einen weiteren Feldspieler ersetzt, um vielleicht noch den Ausgleich zu erzielen, doch sie verloren die Scheibe an die Deutschen, für die Draisaitl den Konter fuhr und das "Empty-Net-Goal" zum 4:2-Endstand erzielte.
Auch nach seinem fünften Treffer im Turnier ließ der 23-Jährige cool den Zahnschutz aus dem Mund gleiten - seine Art, zu feiern. Die deutschen Fernsehzuschauer - regelmäßig über eine Million - sind mit diesem Bild vertraut geworden im Verlauf der WM.
Das sind die Mannheimer Matthias Plachta und Markus Eisenschmid, der Kölner Frederik Tiffels, der Münchner Yasin Ehliz und der College-Spieler Marc Michaelis. Und auch Moritz Seider, das Verteidigertalent aus Mannheim, das seit dem fünften Spiel seine Gehirnerschütterung auskuriert, hat zwei Treffer beigesteuert. Die Deutschen glänzen in der Slowakei mit der Tugend des "Secondary Scoring". Das heißt: Die Tore sind breit gestreut, auch die hinteren Reihen können mehr als ein Ergebnis zu verwalten; sie setzen eigene Akzente.
Bundestrainer Toni Söderholm widersteht zwei Versuchungen, denen ein Trainer in seiner Position ausgesetzt ist. Die eine: die Stars in einem Best-of-Block zu sammeln. "Draisaitl und Kahun kann ich immer noch zusammen aufs Eis bringen, wenn es knapp wird", sagt der Finne. Ihm ist es lieber, das Talent der NHL-Spieler auf mehrere Reihen zu verteilen. Dadurch gestaltet er die Blöcke ausgeglichener und verzichtet auf - die andere Verlockung - eine klassische vierte Sturmlinie, deren Aufgabe es ist, vor allem zerstörerisch auf den Gegner zu wirken.
Einhellige Expertenmeinung ist, dass die deutsche Mannschaft 2019 offensives Potenzial bietet wie nie zuvor in ihrer Geschichte. "Das Eishockey hat sich in den vergangenen zehn Jahren nachhaltig verändert", sagt Rick Goldmann, ehemaliger Nationalspieler und seit 2008 als Sport1-Moderator der deutsche Eishockey-Erklärer. Schnelligkeit und Wendigkeit seien nun wichtigere Kriterien als Größe und Masse. Fünf Spieler im deutschen WM-Kader sind unter 1,80 Meter und gelten nach etablierten Eishockey-Maßstäben als klein. Oder sind wie Markus Eisenschmid, der bei 1,84 Meter überschaubare 82 Kilogramm wiegt, Eishockey-Leichtgewichte.
Große Spieler wie Matthias Plachta oder Lean Bergmann sind läuferisch und technisch stark. "Wir haben vorne drin Einzelspieler, die ein Spiel entscheiden können", sagt Abwehrroutinier Yannic Seidenberg. Für die alte Eishockey-Schule stehen nur noch Denis Reul, der Berg von einem Mensch, Benedikt Schopper und Marco Nowak - aber sie sind Verteidiger mit klar ausgewiesenen Defensivaufgaben.
Söderholms Mischung funktioniert auch deswegen, weil die NHL-Spieler sich nicht zu schade sind, ihre Fähigkeiten mit den anderen zu teilen. Selbst ein Jahrhunderttalent wie Draisaitl würde niemanden im Team spüren lassen, dass er auf einem anderen Level zuhause ist. "Ich freue mich, bei der Nationalmannschaft zu sein", sagt der gebürtige Kölner in seiner unkomplizierten Art, "mit den meisten habe ich schon als Junge zusammengespielt, hier kann ich mal wieder Deutsch und auch blöd daherreden."
Dominik Kahun ist nach seinem ersten Jahr in der NHL (Chicago Blackhawks) und trotz des Aufstiegs in neue Gehaltssphären weit davon entfernt, auf Teamkollegen, die es nicht nach Nordamerika geschafft haben, herabzublicken. Er musste selbst erst vier Jahre in der DEL hinter sich bringen, um von der NHL für reif befunden zu werden. Als Juniorenspieler in Kanada hatte er kein Profiangebot bekommen.
Kahun ist mit seinem Werdegang ein Vorbild für Spieler wie Eisenschmid, Lean Bergmann, Marcel Noebels, die teils schon drüben waren und eine Karriere in der NHL noch auf dem Schirm haben. Auch die Gewissheit, dass die NHL-Scouts ihren Blick mittlerweile auf die internationalen Turniere richten, spornt sie an. Sie orientieren sich an Draisaitl und Kahun, an deren Bewegungen und Pässen - und das lässige Spiel mit dem Zahnschutz, der zwischendurch im Mundwinkel hängt, haben sie auch schon übernommen.
spiegel
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