Die Selbstzerstörung der SPD

  31 Mai 2019    Gelesen: 457
  Die Selbstzerstörung der SPD

Die SPD unterschätzt, welch dramatischen Bruch es mit ihrer Wählerschaft in der Zeit von Rot-Grün gegeben hat. Nie zuvor und nie mehr danach wurde die eigene Klientel so dramatisch abgehängt wie damals.

Wir haben für die Kolumne heute eine Überschrift ausgesucht, die im Internet gerade recht gut zu funktionieren scheint. Sie können gemessen an aktuellen Vergleichswerten im Grunde davon ausgehen, dass außer Ihnen mindestens weitere 13 Millionen Menschen das hier lesen. So oft wurde zumindest dieses Video von Rezo auf YouTube aufgerufen, das bei der CDU gerade leichte Irritationen auslöste.

Na gut, Medium und Autor unterscheiden sich doch recht deutlich. Und wir müssen einräumen, dass die Wortkombination aus "Zerstörung" und "SPD" nicht ganz so überraschend ist wie bei der CDU. Es geht auch nicht, um das klarzustellen, im Folgenden darum, die arme SPD zu zerstören.

Der Job scheint im Grunde auch erledigt - ohne Zutun von außen und weitgehend analog. Rätselhaft scheint dagegen, warum die einst doch relativ wichtige Politgruppierung so konsequent daran scheitert, sich wieder aufzurichten - egal, was sie tut und was passiert. In einer Zeit, in der es dem Land nach gängiger Deutung nicht so schlecht geht. Und Andrea Nahles ja auch nicht beim Betrinken auf Ibiza gefilmt wurde.

Jetzt ist schon der eine oder andere Kommentar darüber verfasst worden, ob die SPD genug für die Leute tut. Und wo orakelt wird, wie sehr es den wechselnden Parteiführungen an etwas mangelt - Charisma oder so. Klar. Waren jetzt alles keine Obamas.

All das kann allerdings nicht ernsthaft erklären, wie atemberaubend es die Sozialdemokraten erwischt hat. Da muss etwas Gravierenderes passiert sein - etwas, das ebenso atemberaubende Züge trägt wie der Sozi-Absturz. Eine Möglichkeit wäre das Folgende.

Nimmt man gängige Indikatoren dafür, wie sehr in Deutschland die Einkommensverhältnisse auseinanderdriften, gab es in der Vergangenheit recht stabile Phasen, in der hohe und niedrigere Einkommen sich einigermaßen gleich entwickelten, die Abstände zumindest nicht viel größer wurden. Etwa in den Neunzigerjahren. Oder in den konjunkturell relativ guten Jahren unmittelbar vor und nach der großen Finanzkrise 2008/09.

Zwischen diesen Blöcken aber gab es einen Bruch. Dramatisch auseinandergedriftet sind die verfügbaren Einkommen der Leute im Land vor allem: zwischen 1999 und 2005 - also exakt in jenen sechs Jahren, in denen die SPD erstmals seit Ewigkeiten den Kanzler stellte, zwischen dem Wahlsieg von Rot-Grün Ende 1998 und der Abwahl von Gerhard Schröder im Herbst 2005.

Einen historischen Anstieg gab es von 1999 bis 2005 beim Verhältnis der obersten zu den untersten Einkommen, wie sie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) regelmäßig ermittelt.
Ebenfalls von 1999 an fallen die verfügbaren Einkommen der untersten zehn Prozent - und beginnt sich der Zuwachs bei den obersten zehn Prozent zu beschleunigen.
Wendepunkt 1999: ebenso beim viel zitierten Gini-Koeffizienten, der die Ungleichheit auf eine Zahl bringt.
Von 1999 an stieg zudem plötzlich auch das Armutsrisiko.
Und auch der Anteil der Niedriglohnempfänger im Land legte in dieser Zeit beschleunigt zu.

Eine Zeitenwende. Seither haben sich die Verhältnisse nicht mehr umgekehrt.

Jetzt wäre es unredlich, das alles nur dem armen Gerhard Schröder und seiner unglücklichen Agenda zuzuschreiben. Zumal die Reformen so richtig erst 2003 starteten. Das kann 1999 also nicht erklären.

Zum Auseinanderdriften dürfte ebenso beigetragen haben, dass durch die Tarifflucht von Betrieben seit Mitte der Neunzigerjahre immer mehr Beschäftigte nicht mehr nach Tarif bezahlt wurden; oder dass es keine Steuer mehr auf Vermögen gab, was kurz vor Rot-Grün kam. Und dass es in der Krise bis 2005 immer mehr Arbeitslose gab, die per Definition dann natürlich auch weniger Geld haben.

Nur macht es all das erstens für diejenigen auch nicht besser, die nun einmal just zu Zeiten des Sozi-Kanzlers auf die eine oder andere Art zu spüren bekamen, dass sie (relativ) ärmer wurden.

Zweitens hat das, was der gute Agenda-Kanzler zu seiner Zeit dann noch beschließen ließ, den ohnehin schon fatalen Trend womöglich entscheidend verschärft. Weil Deutschland nach damals gängiger Gaga-Diagnose sonst angeblich nicht mehr zu retten war, mussten für die Oberen Spitzensteuersätze historisch gesenkt werden (in einer Zeit, in der deren Einkommen ohnehin schon stärker stiegen als die aller anderen) - während denen am unteren Ende über alles Mögliche Druck zu machen war, um die Löhne zu senken. Etwa indem es nicht mehr so lange Arbeitslosengeld gab; oder indem selbst Höherqualifizierte irgendwelche Billigjobs annehmen mussten; oder über die größte Liberalisierung von Leiharbeit und die völlig widersinnige Abschaffung der Meisterpflicht. Was durch die neue Billigkonkurrenz ebenso den Druck erhöhte - und gewirkt hat. Siehe oben.

Selten ist de facto so viel Geld von unten nach oben verteilt worden wie - unter Sozi-Kanzler Schröder.

Und das alles, ohne dass das ökonomische Versprechen eingelöst wurde, wonach dank der Reformen am Ende alle mehr Einkommen haben. Heute kriegen trotz wirtschaftlicher Erholung viel mehr Leute nur einen Niedriglohn als vor der Agenda-Zeit. Aufstieg durch Verzicht? Von wegen.

Um es wähleratmosphärisch auf den Punkt zu bringen: Da hat nach gut eineinhalb Jahrzehnten Kohl-Regentschaft endlich - aus Sicht der damals noch recht zahlreichen SPD-Anhänger - wieder die Partei der kleinen Leute regiert. Mit dem Ergebnis, dass die kleinen Leute am Ende erstmals seit Jahrzehnten weniger Geld hatten als davor. Was es in der gesamten Zeit von Helmut Kohl zuvor und Angela Merkel danach nicht gab.

Noch Fragen?  Ob komplett oder nur halb selbstverschuldet - oder vom damaligen ökonomischen Zeitgeist verirrt: Das war für die Sozialdemokratie dann einfach ähnlich geschäftsfördernd, als würde Volkswagen seiner Golf-Kundschaft auf einmal Dreiräder bieten. Oder beim Veggie-Bäcker lägen plötzlich Rinderbacken im Körbchen. Da ist die Kundschaft nachhaltig irritiert. Und weg.

Und da reicht es auch nicht mehr, das eine oder andere Brötchen daneben zu legen - und, auf die Sozis übertragen, hier und da mal Mindestlöhne oder Basisrenten einzuführen.

Nach einem derartigen Komplettausfall gilt es, diejenigen, die sie früher einmal gewählt haben, wieder davon zu überzeugen, dass es für kleinere Leute nicht nur soziale Notfallmittel, sondern künftig garantiert mehr Zuwachs an Einkommen gibt als für alle anderen. So wie es die Vereinten Nationen als Ziel ausgegeben haben, damit die Kluft sich, logisch, wieder schließen kann.

Die Alternative liegt arithmetisch nahe: dass die Verhältnisse weiter auseinanderdriften. So wie sie es nach jüngsten Schätzungen schon wieder zu tun begonnen haben. Was wiederum erklären könnte, warum es auch für die Sozis einfach nicht besser wird. Zeit für einen viel größeren Schnitt.

spiegel


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