Norddeutschland träumt von industriellem Öko-Boom

  03 Juni 2019    Gelesen: 587
  Norddeutschland träumt von industriellem Öko-Boom

Berlin (Reuters) - Vor kurzem geriet Angela Merkel in Sassnitz auf Rügen ins Träumen.

“Wenn nicht so viele Energieleitungen da sind, wie man eben zum Weiterleiten bräuchte, dann kann man ja auch gleich hier im Norden mehr Industrie ansiedeln”, sagte die Kanzlerin mit Blick auf den schleppenden Bau der “Stromautobahnen”, die Windenergie von der Küste zu den industriellen Zentren im Süden und Westen der Republik bringen sollen. Die Kanzlerin hatte gerade einen neuen Offshore-Windpark in der Ostsee eingeweiht - und ist mit ihren Träumen nicht alleine.

Tatsächlich wittern die fünf Nord-Bundesländer eine einmalige Chance zur wirtschaftlichen Aufholjagd. “Mit dem weiteren Ausbau erneuerbarer Energien wird Norddeutschland Energieerzeugungsregion Nr. 1 in Deutschland werden”, sagt etwa Friederike Kühn, Vorsitzende der IHK Nord. “Damit und zusammen mit dem Zugang zum seeschifftiefen Wasser bietet das für energieintensive und energiebewusste Unternehmen ideale Standortbedingungen.”

Grund ist vor allem der massive Ausbau der Windenergie, deren Potenzial nach Meinung von Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) noch lange nicht ausgeschöpft ist. “Der Norden mit seinem Wind löst den Westen mit seiner Kohle und den Süden mit seiner Atomkraft als neues Energiezentrum Deutschlands ab”, sagt er selbstbewusst im Reuters-Interview. “Deshalb muss jetzt dringend das Regelwerk so geändert werden, dass es belohnt wird, Industrie dort anzusiedeln, wo grüner Strom aus erneuerbaren Energiequellen billig, nah und in großem Umfang verfügbar ist.”

Wenn auch Merkel das nun wolle, könne er nur sagen - “Welcome to the club”. “Dann sollte die Kanzlerin in Berlin aber auch dafür sorgen, dass der Bund die richtigen Weichenstellungen vornimmt”, mahnt der SPD-Politiker. Denn es gibt im Norden parteiübergreifend gleich mehrere Kritikpunkte an der Bundesregierung. Zum einen fordert Weil, endlich alle Restriktionen für den Ausbau des Offshore-Windes aufzuheben. Es sei absurd, die Ausbau-Bremse mit dem Argument des schleppenden Leitungsbaus nach Süden zu begründen - für den ebenfalls der Bund verantwortlich sei.

“Wir haben ein Ausbauziel für Offshore-Wind von 20 Gigawatt bis 2030 – was angesichts der geringen Ambitionen in Berlin nur schwer zu erreichen sein wird”, kritisiert Weil und warnt, dass auch die Klimaschutz-Ziele für 2030 dann nicht zu erreichen seien. Bis 2030 sollen eigentlich 65 Prozent der Stromerzeugung aus Erneuerbaren Quellen kommen - das gehe aber nur mit einem massiven Ausbau der Windenergie. “Dabei ist Wind letztlich unendlich da, wir könnten sehr viel mehr Offshore-Windparks bauen.”

Auch Mecklensburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) stimmt in den Tenor ein: “Konkret fordern, wir mit den Nordländern den Offshore-Ausbau bis 2030 auf mindestens 20 Gigawatt, bis 2035 auf 30 Gigawatt zu erhöhen und freie Aufnahmekapazitäten an Land für den kurzfristigen Offshore-Ausbau zu nutzen”, sagt sie im Reuters-Interview. Der Bundesverband Windenergie (BWE) nennt in einer Studie sogar ein mögliches ein Ausbauziel von 52 Gigawatt Offshore.

Und die Windräder an Land sind dabei nicht einmal erwähnt. Zwar räumen sowohl Weil als auch der Fraktionschef im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern, Vincent Kokert (CDU), ein, dass die Onshore-Windenergie mittlerweile sehr viele Kritiker hat. “Das größte Problem ist, dass die Standortgemeinden wenig bis gar nichts davon haben, wenn da ein Windrad steht”, sagt Kokert. Weil die Geräte vor Ort weder Steuern noch Arbeitsplätze brächten, könne er nachvollziehen, dass sich die Begeisterung in Grenzen halte. “Unternehmensansiedlungen in der Nähe von Windparks könnten ein Weg sein, die Akzeptanz deutlich zu erhöhen”, sagt er. Schwesig warnt jedenfalls angesichts zurückgehender Bauanträge für neue Windräder vor einem “Fadenriss” wie in der Photovoltaikbranche.

“DER NORDEN DEUTSCHLANDS IST PRÄDESTINIERT”

Denn längst steht nicht nur die Politik, sondern auch die Industrie bereit. VW hat gerade den Bau einer Batterie-Fabrik in Salzgitter angekündigt. “Der Norden Deutschlands ist prädestiniert”, begründete Konzern-Chef Herbert Diess mit Blick darauf, dass die Batterieproduktion sehr energieintensiv sei und im Norden genug Öko-Strom für eine klimaneutrale Produktion bereitstehe. Ministerpräsident Weil sieht die Chancen für eine zweite Fabrik in Emden. Seine Kollegin Schwesig verweist auf das Projekt Wemag in Mecklenburg-Vorpommern zu Batterien und Batteriespeicher.

Aber Weil sieht Chancen für die Küstenregion nicht nur in der Batterieproduktion, sondern auch bei großen IT-Servern, die ebenfalls sehr viel Strom verbrauchen. Auch Merkel verweist nach dem Vorbild Skandinaviens darauf, dass man die IT-Infrastruktur nahe der Öko-Strom-Quellen ansiedeln könne - also im Norden. Unternehmen scheinen dem gegenüber aufgeschlossen: “Wir erleben ein großes Interesse aus der Industrie, die Fertigungsprozesse auf Erneuerbare Energien umzustellen”, betont Wolfram Axthelm, Geschäftsführer Bundesverband Windenergie. “Es werden aber vor allem auch Wärme, Wasserstoff und wir glauben auch Methanol, Ammoniak, regenerative Gase/Biogase und synthetische Kraftstoffe sein.” Der Gesetzgeber müsse dafür nur endlich die Abgaben und Umlagen bei der Nutzung von Windstrom reformieren.

HOFFNUNG AUF DIE GRÜNE WASSERSTOFFWIRTSCHAFT

Als Schlüssel für den Durchbruch gilt besonders die sogenannte Wasserstoffwirtschaft. Dabei wird Windstrom genutzt, um Wasserstoff zu erzeugen, der wiederum als saubere Energiequelle oder Gas in der Industrieproduktion eingesetzt wird. Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen und Bremen ziehen hier parteiübergreifend an einem Strang: Die Wirtschafts- und Verkehrsministerien der fünf Nordländer haben gerade ein Strategiepapier zur Wasserstoffwirtschaft verabschiedet. Man habe die Chance, in eine “Green Economy” überzugehen, heißt es in dem Papier.

Aber auch hier hakt es an der Rahmengesetzgebung des Bundes. “Eine signifikante Behinderung ist es etwa, dass die EEG-Umlage zweimal erhoben wird: Zunächst bei der Aufspaltung von Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff und dann bei der Einspeisung des aus Wasserstoff generierten Stroms”, kritisiert Weil. Zudem gibt es die Forderung, dass öffentliche Beschaffungsaufträge künftig “technologieoffen” ausgeschrieben werden sollten: Dann könnten etwa auch mit Wasserstoff-angetriebene Nahverkehrszüge gekauft werden.  

Bei der Industrie gebe es ein spürbares Interesse an Wasserstoffprojekten, berichten sowohl Politik als auch Handelskammern, etwa bei der Stahlerzeugung in Salzgitter oder bei Dow Chemical in Stade. “Die Unternehmen wissen, dass sie Teil der Klimawende sein und den CO2-Ausstoß bei der Produktion drastisch reduzieren müssen”, sagt Weil. Gerade im Zusammenspiel mit “grünem”, also aus Ökostrom produzierten Wasserstoff und weiteren Speichertechnologien bereite die Energiewende den optimalen Nährboden für die Renaissance des Industriestandorts Norddeutschland, meint auch die IHK Nord-Vorsitzende Kühn.

Wasserstoff könnte zudem für den Verkehrssektor wichtig werden - parallel zur E-Mobilität. “Den Einsatz sehe ich sowohl bei Zügen, LKW und Schiffen”, sagt Weil mit Verweis auch auf bereits existierende Pilotprojekte.

MILLIONEN WERDEN IN DEN SAND GESETZT

Dass die norddeutschen Bundesländer aufs Tempo drücken, liegt nicht nur daran, dass Deutschland ohne ein massives Umsteuern zu einer CO2-freien Lebens- und Arbeitsweise keine Chancen hat, die Klimaschutzziele 2030 zu erreichen. Der schleppende Leitungsausbau nach Süden bremst nicht nur den Windenergie-Ausbau im Norden - er führt auch zu einer bizzaren und für den Stromkunden teuren Situation: 2018 wurden nach Angaben der Bundesnetzagentur ingesamt 654 Millionen Euro an sogenannten Ausgleichzahlungen an die Betreiber von Windrädern gezahlt - damit diese ihren Strom nicht in das überlastete Netz leiten. Bezahlt wurde also für die Nicht-Produktion. Umgelegt wurden die Kosten auf die Stromkunden - statt dass das Geld und der überschüssige Windstrom für neue wirtschaftliche Projekte auch im Rahmen der Klimaschutz-Anstrengungen an der Küste genutzt wurde.


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