Manfred Weber war der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) bei der Europawahl. Er trat an, um EU-Kommissionspräsident zu werden. Seine Parteienfamilie stellt trotz Verlusten weiterhin die größte Fraktion im Parlament. Dennoch wird der CSU-Vize Weber aller Voraussicht nach den Präsidentenjob nicht bekommen. Das hat gerade der EU-Gipfel in Brüssel gezeigt.
Damit ist Manfred Weber der erste Verlierer im großen EU-Personalpoker. Sicher, der 46-Jährige kann in der nächsten Woche noch versuchen, eine Mehrheit im Parlament zu schmieden. Doch die Widerstände gegen ihn sind zu stark, im Parlament sowie unter den Staats- und Regierungschefs.
Weber erinnert an einen Fußballspieler, der gleich bei mehreren Spielen hintereinander verletzt vom Platz getragen wurde. Er wird nicht mehr eingewechselt. EU-Ratspräsident Donald Tusk hatte die Staats- und Regierungschefs am Donnerstagabend darüber unterrichtet, dass kein Spitzenkandidat im Rat eine Mehrheit hat. "Ich sehe im Augenblick nicht, dass wir an diesem Ergebnis etwas ändern können", sagte Kanzlerin Angela Merkel sodann am Freitagmittag.
Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wollen sich daher nun auf die Suche nach neuen Anwärtern für den Posten machen. Sollte der Job, was zu erwarten ist, weiterhin an die EVP gehen, werden Namen wie Irlands Premier Leo Varadkar oder Brexit-Chefunterhändler Michael Barnier gehandelt.
Was bleibt, ist ein schales Gefühl, auch wegen der persönlichen Attacken gegen EVP-Spitzenmann Weber. Vor allem Macron ließ in den vergangenen Monaten keine Gelegenheiten aus, Weber zu desavouieren. Eine eigene positive Idee, wen er stattdessen will, ist von ihm bisher jedoch nicht bekannt.
Womöglich kam Webers Griff nach dem EU-Spitzenposten zu früh. Er könnte die nächsten Jahre daran arbeiten, die Lücke in seinem Lebenslauf, die ihm - ob zu Recht oder zu Unrecht - zum Verhängnis wurde, zu schließen: seine fehlende Erfahrung als Minister oder in anderen hohen politischen Verwaltungsjobs. Auch wenn es wie eine Demütigung wirken muss - vielleicht sollte er nun den Posten des deutschen Kommissars übernehmen. Nach seinem engagierten Wahlkampf könnte Merkel ihm den Job kaum verwehren.
Die zweite Verliererin des EU-Gipfels ist die Kanzlerin. Das Spitzenkandidatenprinzip bringt Angela Merkel einfach kein Glück - im Gegenteil. 2014 wollte sie das Konzept und Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker als Kommissionschef verhindern - und musste am Ende klein beigeben. Jetzt, fünf Jahre später, trat sie pflichtschuldig für das Konzept und den Kandidaten Weber ein - und muss am Ende beide Positionen räumen.
Merkel erwähnt den Namen Weber bei ihren Pressekonferenzen in Brüssel nur noch widerwillig. Natürlich sei sie mit ihm in Kontakt gewesen, sagt sie. Die Kanzlerin ist aber offensichtlich nicht mehr bereit, auch nur einen Cent Kapital in die Personalie zu investieren. Die Staats- und Regierungschefs haben Weber für zu leicht befunden. Und Merkel, die zuletzt mit Überzeugung für ihn gekämpft hat, akzeptiert, dass sie an diesem Befund nicht vorbeikommt.
Wer die Kanzlerin kennt, der kann sich vorstellen, wie sehr es sie wurmt, dass sie sich im vergangenen Herbst von EVP-Chef Joseph Daul und Weber hat überzeugen lassen, Webers Spitzenkandidatur ihren Segen zu geben. Weber scheitert genau an den Gründen, die immer schon als mögliche Schwachstellen genannt wurden: seiner fehlenden Erfahrung in Spitzenämtern und einem nach der Europawahlzersplitterten Parlament, in dem er keine Mehrheit findet.
Dritter Verlierer ist das Europaparlament und sind die Wähler. Das Parlament hat in den letzten Tagen Macht und Einfluss verspielt. Sicher, man kann sagen, dass vier Wochen nach der Wahl keine lange Zeit sind, um sich auf ein grobes Programm und einen Kandidaten für den Posten des Kommissionschefs zu einigen. Andererseits war immer klar, dass das Parlament bis zum Gipfel diese Woche ein Ergebnis präsentieren musste, um im Spiel zu bleiben.
Doch am Ende trieben nicht die Parlamentarier den Rat vor sich her, sondern umgekehrt: Die Staats- und Regierungschefs marschierten im Parlament ein. In enger Absprache mit Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez und offenbar auch Macron machten die neuen Fraktionschefs von Sozialisten und Liberalen dem EVP-Kandidaten Weber am Donnerstagvormittag klar, dass sie ihn nicht zum Kommissionschef wählen würden.
Dass Weber das nun noch einmal drehen kann - etwa mit dem Argument, den Spitzenkandidatenprozess zu retten -, ist unwahrscheinlich. Der scheidende Parlamentsveteran Elmar Brok (CDU) appelliert an alle Parteien, jetzt zusammenzustehen. "Dies ist nicht die Zeit für taktische Spielchen. Um den Spitzenkandidaten zu retten, müssen jetzt alle Pro-Europäer im Europaparlament nach einer Lösung suchen."
Wie bis zum Sondergipfel am 30. Juni eine Lösung gefunden werden soll, weiß niemand. Im Europäischen Rat sind neben Macron zehn weitere der insgesamt 28 Staats- und Regierungschef gegen Weber. Auch die anderen Spitzenkandidaten scheinen aus dem Rennen zu sein.
Das Spitzenkandidatenmodell sei beim Gipfel "nicht als das gültige System betrachtet" worden, sagte Macron anschließend. Es habe keinen mehrheitsfähigen Kandidaten hervorgebracht, weshalb man nun einen "neuen Prozess" gestartet habe.
Wie genau der aussehen soll, verriet Macron nicht - dafür aber, wie er sich den künftigen Kommissionspräsidenten vorstellt. Er brauche "außergewöhnliche Fähigkeiten und Erfahrung, um Europa zu verkörpern", so Macron. Diplomaten lästerten hinterher, dass diese Beschreibung wohl nur auf einen passe - Macron selbst.
Der Triumph des Franzosen könnte zu früh kommen, denn Frankreichs Präsident zählt ebenfalls nicht zu den Siegern. Zwar ist das Spitzenkandidatenmodell so gut wie am Ende. Dass aber nun Macron den Kandidaten seiner Wahl durchdrücken kann, ist äußerst unwahrscheinlich.
Merkel mag Weber aufgegeben haben, nicht aber den Anspruch, einen Christdemokraten zum Kommissionspräsidenten zu machen. Nicht umsonst beriet sich Macron nach dem offiziellen Ende des Gipfels noch volle zwei Stunden lang mit den Regierungschefs aus den Niederlanden, Spanien, Belgien und Portugal. Also liberalen und sozialdemokratischen Regierungschefs.
Doch selbst wenn sich die Staatenlenker nächste Woche auf einen alternativen Kandidaten einigen sollten, müsste dieser noch vom Europaparlament bestätigt werden. "Ich gehöre einer Parteienfamilie an, die sich dem Spitzenkandidatenprozess verpflichtet fühlt", stellte Merkel nach dem Gipfel fest. "Insofern stehen uns da noch schwierige Diskussionen bevor." Die Frage, wie eine für alle Beteiligten gesichtswahrende Lösung aussehen könnte, ließ sie unbeantwortet.
Nächster Stopp ist jetzt der G-20-Gipfel in Japan. Neben Merkel und Macron werden auch die Ministerpräsidenten der Niederlande und Spaniens, Mark Rutte und Pedro Sánchez, anwesend sein, also die Quasianführer aller Parteienfamilien.
Es wäre ein denkwürdiges Ende für den Prozess des Spitzenkandidaten. Statt bei der Europawahl wird der nächste Kommissionschef wieder hinter den Kulissen abgesprochen - in Japan.
spiegel
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