Es gibt gute Gründe, die Entscheidung zu kritisieren. Der EU-Ministerrat hat sich entschieden, dem Parlament in Straßburg Ursula von der Leyen als Kandidatin für das Amt der Kommissionspräsidentin vorzuschlagen. War sie eine der Spitzenkandidatinnen bei der Wahl? Nein. Ist für 426 Millionen Wahlberechtigte in Europa nachvollziehbar, warum die deutsche Verteidigungsministerin nun plötzlich das mächtigste Amt in Brüssel übernehmen soll? Auch das nicht. Hat sie in ihrem bisherigen Amt bewiesen, dass sie in der Lage ist, Krisen zu bewältigen? Nein. Wurde bewiesen, dass in der EU Hinterzimmer-Abmachungen mächtiger sind als demokratische Strukturen? Vielleicht. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Fest steht aber eines: Angela Merkel hat bei dem Vorgang bewiesen, wie routiniert sie darin ist, politische Weichen in ihrem Sinne zu stellen. Zunächst versuchte sie, dem Spitzenkandidaten-Prinzip gegenüber loyal zu bleiben, EVP-Kandidat Manfred Weber durchzusetzen. Das war nicht machbar. Dann sollte es ein Sozialdemokrat werden - Frans Timmermans - Hauptsache eben ein Spitzenkandidat. Als das auch nicht ging, schafft es die deutsche Bundeskanzlerin, eine enge Parteivertraute aus ihrem Kabinett, ihre Verteidigungsministerin, durchzusetzen.
Merkel mischt die Karten in Berlin neu
Die Kür: Das ganze sieht nicht einmal danach aus, als habe sie an der Entscheidung groß mitgewirkt. Kaum ist das Gerede von der Personalie von der Leyen öffentlich, reklamieren die entschiedenen Gegner des Spitzenkandidaten-Prinzips den Vorschlag für sich. Die Visegrád-Staaten wollen sie vorgeschlagen haben, ebenso der französische Präsident Emmanuel Macron, der davon schwärmt, dass es mit der in Brüssel geborenen von der Leyen eine frankofone Kommissionspräsidentin geben könnte. Am Ende enthält sich Merkel bei der Abstimmung sogar, weil der deutsche Koalitionspartner SPD mit dem Vorschlag nicht einverstanden ist. Ohne bewerten zu wollen, ob der ganze Vorgang nun gut oder schlecht ist, muss festgehalten werden: Hier versteht jemand, wie die Brüsseler Hinterzimmer funktionieren.
Ging es Merkel bei diesem Coup nur darum, die Kommissionspräsidenten-Frage schnell zu klären oder steckt mehr dahinter? Zur Erinnerung: Nach der Europawahl 2014 dauerte das Ringen um den Posten Monate. Vielleicht sollte es ja dieses Mal einfach schnell gehen, um das Ansehen der demokratischen Institutionen zu schützen. Dann jedoch eine Kandidatin platzieren, die im Wahlkampf nicht ein einziges Mal aufgetreten ist? Der pragmatische Erkläransatz ergibt keinen Sinn.
Vieles deutet darauf hin, dass Merkel die Karten in Berlin neu mischen will. Das wichtige Verteidigungsressort gab unter von der Leyens Führung ein miserables Bild ab: Berater-Affäre, Gorch-Fock-Blamage, das völlig erodierte Ansehen der Ministerin in der Truppe. Nimmt das Parlament in Straßburg von der Leyen an, wird ein Platz frei am Kabinettstisch. Das Gerede darüber, wer nachrücken könnte, ist im vollen Gange: Gesundheitsminister Jens Spahn könne übernehmen, heißt es, vielleicht auch Verteidigungsstaatssekretär Peter Tauber. Auch ist davon die Rede, dass der bayerische Innenminister Joachim Herrmann von der Leyens Nachfolge antreten könnte. Dem CSU-Übergewicht könnte Innenminister Horst Seehofer entgegenwirken, indem er zurücktritt. Es sind alles Gerüchte, doch klar ist: Wird Von der Leyen gewählt, kommt viel Bewegung in Merkels Kabinett.
Anschlussverwendung für AKK?
Die Sogwirkung könnte auch CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer erfassen. Die hat zwar gegenüber der "Bild"-Zeitung bereits abgelehnt, das Amt der Verteidigungsministerin übernehmen zu wollen. Aber was ist mit dem Gesundheitsressort, falls Spahn wechselt? Oder dem Inneren, falls Seehofer abdankt? Fest steht: Die Rolle als CDU-Chefin steht AKK nicht gut. Wahlergebnisse, Umfragewerte, ihre persönlichen Beliebtheitswerte - alles ist im freien Fall. Kaum jemand traut ihr zu, die CDU-Erbfolge von der Parteispitze ins Kanzleramt antreten zu können. Mit einem Ministerposten hätte sie mehr Möglichkeiten, sich zu profilieren. Oder aber sie wechselt als Vollzeitjob ins Kabinett und beendet das bisher erfolglose Projekt der CDU-Führung. Vielleicht liegt die Entscheidung aber auch gar nicht bei ihr.
Die vertrackte Lage, dass Spitzenkandidat Weber keine Mehrheit finden konnte, hat Merkel letztlich zu ihren Gunsten gedreht und eine Parteivertraute durchgesetzt. In vielen europapolitischen Fragen steht von der Leyen ihr deutlich näher als CSU-Kandidat Weber. Nebenbei hat sie das deutsch-französische Verhältnis, das über die Frage des Kommissionspräsidenten beschädigt wurde, gekittet. Auch weil die Französin Christine Lagarde nun die Führung der EZB übernehmen soll. Das macht nicht nur Macron glücklich, sondern auch die Kanzlerin: Lagarde teilt Merkels Vorstellung einer tieferen finanzpolitischen Integration.
Die Spekulationen darüber, Merkel könne die Kontrolle entgleiten, sie habe die Lage nicht mehr im Griff, waren bereits im Gange - angeheizt auch durch Fragen über ihren Gesundheitszustand. Die vergangenen Tage haben das Gegenteil bewiesen. Merkel dürfte von der Leyen in klarer Erwartung einer Umbesetzung ihres Kabinetts platziert haben. Auch wenn es danach aussieht, als habe sie daran gar keinen Anteil gehabt. Sollte die nun folgende Personalrochade auch die Chefetage des Konrad-Adenauer-Hauses erfassen, sollte man sich an diese Brüsseler Tage erinnern und daran, wie dezent die Kanzlerin Entscheidungen in ihrem Interesse durchsetzen kann. Die Erkenntnis muss lauten: Merkel hat die Fäden weiterhin fest in der Hand - ob man das nun gut heißt, oder nicht.
Quelle: n-tv.de
Tags: