Die türkische Regierung muss sich sehr sicher gewesen sein - oder sie war sehr naiv. Ohne besondere Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, schickte sie mehrere Militärkonvois einmal quer durch die nordsyrische Provinz Idlib in Richtung des Dorfes Morek.
Dort unterhält die türkische Armee seit vergangenem Jahr einen von insgesamt zwölf sogenannten Observationsposten. Der Stützpunkt liegt südlich der Kleinstadt Chan Scheichun, in der sich Truppen des Assad-Regimes und Rebellen bekämpfen.
Präsident Recep Tayyip Erdogan wollte offensichtlich ein Signal senden, dass seine Regierung dem jüngsten Vorstoß der syrischen Armee in der Rebellenhochburg Idlibnicht tatenlos zusieht. Gleichzeitig setzte er wohl darauf, dass die russische Regierung, wichtigster Verbündeter Baschar al-Assads, einen Angriff auf türkische Einheiten schon verhindern würde. Diese Sorglosigkeit hat sich nun gerächt. Die türkische Regierung gab am Montag bekannt, dass einer ihrer Konvois aus der Luft beschossen wurde - wahrscheinlich von der syrischen Luftwaffe. Drei Zivilisten starben nach Angaben Ankaras.
Der Vorfall zeigt, wie schnell der syrische Bürgerkrieg auch in seinem neunten Jahr noch immer eskalieren kann. Assad ist entschlossen, Syrien mithilfe Moskaus und des iranischen Regimes vollständig von den Rebellen zurückzuerobern - egal mit welchen Mitteln. Und während die Welt der syrischen Katastrophe inzwischen weitgehend gleichgültig zusieht, ergreift lediglich Ankara noch eindeutig Partei für die Rebellen.
Erdogan will verhindern, dass Assad Idlib einnimmt, auch weil er weiß, dass dies eine neue Massenflucht von Syrern in die Türkei auslösen würde. Mehr als drei Millionen syrische Flüchtlinge leben bereits in der Türkei. In den vergangenen Wochen haben die Behörden mehrfach Syrer in Bussen zurück nach Idlib deportiert - ausgerechnet in das Gebiet, das Assad nun mit russischer Hilfe stürmt.
Vergangenen Herbst trotzte Erdogan Russlands Präsident Wladimir Putin eine Waffenruhe ab, die eine Offensive auf Idlib vorerst stoppte. Beide Staatschefs hatten damals zugesichert, für die Sicherheit der Zivilsten zu garantieren. Doch weder hielt Erdogan seine Zusage ein, entschieden gegen die Dschihadistenmiliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) in Idlib vorzugehen, noch gaben Putin und Assad ihr Ziel auf, die Provinz zurück unter die Kontrolle der Regierung in Damaskus zu bringen.
Deshalb sind die Kämpfe seit April neu entfacht. Das Assad-Regime und das russische Militär nehmen gezielt auch zivile Einrichtungen wie Schulen oder Krankenhäuser unter Beschuss. Am Dienstag räumte Putins Außenminister Sergej Lawrow erstmals ein, dass auch russische Bodentruppen in Idlib im Einsatz sind.
Die humanitären Folgen der Offensive sind verheerend: Tausende Menschen wurden seit Ende April in Idlib getötet, mehr als 540.000 in die Flucht getrieben. Viele von ihnen sind Binnenflüchtlinge, die in den vergangenen Jahren aus anderen Landesteilen in die Provinz vertrieben wurden und nun erneut flüchten mussten. Tausende von ihnen leben unter freiem Himmel und suchen Schutz in Olivenhainen.
Erdogan steckt nun in einem Dilemma: Um Assads Vormarsch ernsthaft Einhalt gebieten zu können, müsste er deutlich mehr Soldaten nach Idlib schicken, was innerhalb der kriegsmüden, türkischen Bevölkerung für massive Unruhen sorgen würde. Ohne Verstärkung aber ist er auf das Wohlwollen Putins angewiesen.
"Wir stehen mit Russland in Kontakt"
Der türkische Militärposten in Morek ist inzwischen nahezu komplett von syrischen Regierungstruppen und ihren Verbündeten umzingelt. Außenminister Mevlüt Cavusoglu betonte am Mittwoch, dass Ankara dennoch nicht daran denke, den Stützpunkt aufzugeben oder zu verlegen. "Wir haben nicht die Absicht, ihn woanders aufzustellen", sagte Cavusoglu. Genau das verlangt aber offenbar Moskau. "Wir stehen auf allen Ebenen mit Russland in Kontakt", sagte der türkische Außenamtschef dazu diplomatisch.
Die Türkei und Russland standen schon einmal kurz vor einem Krieg, als das türkische Militär 2015 einen russischen Jet über syrischem Luftraum abschoss. Seit sich Erdogan für den Vorfall entschuldigt hat, haben sich beide Staaten jedoch angenähert. Erdogan und Putin stimmen ihre Syrien-Politik teilweise ab. Gerade erst hat Ankara das Raketenabwehrsystem S-400 von Russland gekauft und damit die Nato brüskiert.
Die Partnerschaft zwischen der Türkei und Russland ist jedoch rein taktisch. Sie kann, das zeigt der Angriff auf den Konvoi, jederzeit aufgekündigt werden, wenn eine der beiden Seiten das für opportun hält.
spiegel
Tags: