Im Westen wird gut verdient, im Osten sind die Gehälter mau. Das gilt, 30 Jahre nach dem Fall der Mauer, als Gewissheit - Ausnahmen bestätigen die Regel.
Aber stimmt das? Und was bedeutet es konkret für den Alltag der Menschen? Schließlich unterscheiden sich die frühere DDR und die Alt-BRD auch bei den Verbraucherpreisen, den Lebenshaltungskosten, den Mieten.
Wie wirkt sich das aus? Werden Gehaltsunterschiede dadurch ausgeglichen, wenigstens abgemildert? Oder, umgekehrt, verschärft?
In einer neuen Studie, die dem SPIEGEL vorliegt, gibt das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln Antworten. Die Kurzform: Die Kaufkraft des mittleren Einkommens liegt in beiden Teilen des Landes nicht so weit auseinander, wie mancher vielleicht denken könnte. Nämlich nur um 104 Euro pro Monat: Während die Kaufkraft im Osten 1538 Euro beträgt, sind es im Westen 1642 Euro. Dabei berücksichtigt der Begriff der Kaufkraft, wie viel man sich für den verdienten Euro tatsächlich leisten kann.
In der IW-Studie wird dieser Maßstab regional angelegt. (Und nicht, wie sonst häufig, national: ein Wert für die ganze Republik.) Schließlich geht es ja genau um die Unterschiede der Regionen. Tatsächlich sind die Differenzen demnach mit 121 Euro zwischen Stadt- und Landbewohnern größer als zwischen Ost- und Westbürgern.
In der Großstadt ist man mit mehr Geld arm
Das IW kommt zu diesen Zahlen, indem für relativ kleine Regionen das Preisniveau und das Lohnniveau ins Verhältnis gesetzt werden. An einem Beispiel erklären die IW-Forscher, warum das wichtig ist. "In München liegt das Preisniveau 23 Prozent über dem Bundesdurchschnitt", schreiben sie. Damit ergibt sich für Münchener ein höherer Schwellenwert, ab dem man sozialwissenschaftlich davon spricht, dass ein Arbeitnehmer von Armut gefährdet ist. Legt man den bundesweiten Maßstab an, sind Münchener mit einem Einkommen von weniger als 969 Euro pro Monat arm (relativ einkommensarm). Bezieht man auch das regionale Preisniveau mit ein, sind sie es bis zu einem Einkommen von 1201 Euro (relativ kaufkraftarm).
Zählt man nun, wie viele Menschen unter diese Schwelle fallen, weiß man, wie viele Menschen in ihrer Region arm sind, also - um im Beispiel von München zu bleiben - weniger als 1201 Euro verdienen.
Meist taucht in der politischen Diskussion die gängige Armutsquote auf: Sie gibt an, wie viele Menschen weniger als 60 Prozent des bundesweiten Medianwerts der Einkommen verdienen - sie gelten als arm. In München sind das zehn Prozent (die eben weniger als 969 Euro verdienen). Die Armutsquote nach Kaufkraft (mit dem Münchener Schwellenwert von 1201 Euro) liegt deutlich höher: 18,3 Prozent.
Die Karte zeigt, dass sich da teilweise eine andere Verteilung ergibt, als man gewohnt ist. München liegt da auf einem vergleichbaren Niveau wie mehrere Regionen in Mecklenburg-Vorpommern. Das heißt: Da liegt der Anteil von Menschen ähnlich hoch, die sich an ihrem Wohnort oft nicht mal das Nötigste leisten können.
Vielleicht für manchen überraschend: Die Regionen mit der höchsten Armutsquote nach Kaufkraft liegen allesamt im Westen:
Bremerhaven,
Köln,
Nürnberg,
Gelsenkirchen,
Bonn,
Frankfurt am Main,
die Region Offenbach/Darmstadt/Wiesbaden,
Wuppertal,
Dortmund,
die Region Herne/Bochum.
Weniger überraschend: Keine der Regionen mit besonders niedriger Armutsquote liegt im Osten.
In der folgenden Tabelle können Sie die Werte für Ihre Region herausfinden - und zwar gleich mehrere Armutsindikatoren. Geben Sie einfach in das Suchfeld den Namen Ihres Landkreises oder Ihrer kreisfreien Stadt ein, dann sehen Sie, zu welcher Region sie in der Studie gerechnet wurde und können die Armutsquote nach Kaufkraft ablesen, die herkömmliche Armutsquote nach Einkommen, die Kaufkraft sowie das Preisniveau. Das Preisniveau der gesamten Bundesrepublik wird hier auf 100 gesetzt, 123 heißt also, dass ein regionales Preisniveau 23 Prozent darüber liegt, 94 bedeutet, dass es sechs Prozent niedriger ist.
Der Zuschnitt der Regionen folgt hier den sogenannten Anpassungsschichten. Dieses Konzept hat das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) etabliert, um Unterschiede in Preisniveaus statistisch sinnvoll zu ermitteln. Die Anpassungsschichten variieren in der Einwohnerzahl zwischen 100.000 und 500.000; bei großen Städten kann es sich um einzelne Bezirke handeln, während in ländlichen Regionen mehrere Kreise zusammen betrachtet werden.
Wie aussagekräftig sind diese Daten - immerhin eine Studie, die das arbeitgebernahe IW im Auftrag der industriefreundlichen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) erstellt hat? Der Zuschnitt der Regionen, so kompliziert er auch erscheinen mag, gilt als statistisch durchaus sinnvolles Konzept. Problematisch könnte sich eher auswirken, welche Güter bei der Berechnung der Preisniveaus herangezogen wurden: Für einen Preisvergleich, der für einkommensschwache Haushalte relevant ist, müssten vor allem Güter herangezogen werden, die zum Mindestlebensstandard gehören. Hier wurde allerdings mit bundesweiten Durchschnittspreisen gearbeitet. Das könnte den Armutseffekt in den Daten hier und da verringern.
Andererseits: Einen großen Anteil der Ausgaben bilden Wohnungskosten, da vor allem die Miete. Und die könnten in den mehr als zwei Jahren, die seit der Erhebung der Daten verstrichen sind, eher verschärfend gewirkt haben.
Die Studienautoren selbst gehen allerdings davon aus, dass sich West und Ost seither weiter angenähert haben könnten. Schließlich seien die Löhne weiter gestiegen, viel stärker als die Preise.
spiegel
Tags: