Er hätte sogar den Bundeskanzler gestürzt

  15 September 2019    Gelesen: 822
Er hätte sogar den Bundeskanzler gestürzt

Er ist einer der schillerndsten Trainer der ersten zwanzig Jahre der Bundesliga gewesen. Nun ist der "bunte Hund" Rudi Gutendorf mit 93 Jahren gestorben. Seine Karriere ist eine intensive Reise in die Geschichte des Fußballs der vergangenen 60 Jahre.

Es ist ein Wunder, dass Hollywood nie auf die Idee kam, Rudi Gutendorfs Leben zu verfilmen. Vielleicht liegt es daran, dass es einfach viel zu viel Stoff für neunzig Minuten wäre. Alleine 54 Trainerstationen sind es in seiner Karriere gewesen. Überall hat er bleibende Spuren hinterlassen, Niederlagen beweint und Siege gefeiert. Man hat ihn hochleben lassen ("Ich kann machen, was ich will. Ich bin hier der König", als Nationaltrainer Samoas), doch als den "größten Erfolg" seines Lebens bezeichnet er selbst einen Moment als Nationaltrainer von Ruanda. Dort war Gutendorf nach dem Völkermord engagiert worden und vollbrachte ein wahres Wunder.

Nahe der Verzweiflung hatte Gutendorf damals eine Idee. Er setzte die verfeindeten Bevölkerungsgruppen der Hutus und der Tutsi abends ums Lagerfeuer zusammen. Er sorgte dafür, dass beide Gruppen genau gleich stark vertreten waren. Dann zwang Gutendorf sie dazu, sich zu umarmen. Als im darauffolgenden Spiel 40.000 Fans stolz mitansahen, wie ein Hutu flankte und ein Tutsi das 2:1 gegen die Elfenbeinküste köpfte, erlebte auch der weitgereiste Trainer einen der schönsten Momente seiner an Erlebnissen reichen Laufbahn. Doch auch in diesem politisch hochbrisanten Krisengebiet dachte der gebürtige Koblenzer zuallererst an das Sportliche. Als er vor seiner Abreise nach Ruanda gefragt wurde, wie er seine Mannschaft dort denn einstellen wolle, antwortete Gutendorf: "Nach allem, was ich über das Team weiß, werde ich wohl den Meidericher Riegel wieder einführen."

In seinem Buch mit dem viel sagenden Titel "Ich bin ein bunter Hund" beschreibt sich der ehemalige Übungsleiter der Bundesliga so: "Für den Deutschen Fußballbund bin ich der Trainer Rudi Gutendorf mit der Lizenz-Nummer 330. Bei den Finanzämtern werde ich als ‚Künstler und Artist’ geführt. Bonns Ministerium setzt mich seit einem Vierteljahrhundert als Entwicklungshelfer in Sachen Fußball ein. Die Leute nennen mich Rudi, den Rastlosen, den Globetrotter, einen modernen Goldgräber unserer Zeit. Keiner weiß, dass ich einen einsamen Weltrekord halte. Als einziger Trainer habe ich auf allen fünf Kontinenten gearbeitet. Gelebt, geliebt und manchmal auch geweint …".

"Der Ball ist ein Sauhund"

Gutendorf hat einmal gesagt: "Am Fußball zu hängen, ist eine der unbequemsten Lebenslagen." Ein anderer berühmter Satz von ihm lautete: "Der Ball ist ein Sauhund." Doch auch er selbst konnte ein Sauhund sein: "Ich würde sogar den Bundeskanzler stürzen, wenn das für meine Laufbahn wichtig wäre". Den Satz sagte das CDU-Mitglied Gutendorf übrigens in einer Zeit, als sein Parteikollege Kurt Georg Kiesinger in Bonn regierte.

In Duisburg fing damals im Jahr 1963 die Karriere des Koblenzer richtig an. Der Meidericher SV mit seinem Trainerfuchs Rudi Gutendorf war in der allersten Bundesliga-Spielzeit die eigentliche Sensation der Saison. Am Ende landete der MSV auf Platz zwei in der Abschlusstabelle und kassierte mit 36 Toren die wenigsten Treffer der Liga. Der "Bunte Hund" Gutendorf wurde als "Riegel-Rudi" gefeiert und sein Spielsystem von allen Seiten ausgiebig gewürdigt. Die MSV-Spieler sahen die Sache allerdings deutlich entspannter, wie Torhüter Manfred Manglitz später einmal erzählte: "Was heißt denn schon Rollsystem? Wenn wir den Ball hatten, ging alles nach vorne. War er weg, lief alles nach hinten." In den Folgejahren wurde diese spezielle taktische Ausrichtung auch "Riegel"-Taktik genannt.

Auch damals schon liebte Gutendorf Aktionen, die medial groß aufbereitet werden können. Mit dem Spruch "Meine Spieler sollen ruhig sehen, wie früh andere Leute arbeiten gehen müssen" ließ er seine Mannschaft morgens um halb sechs vor den Zechentoren in Meiderich joggen. Neben der harten Arbeit ist Gutendorf von Anfang an ein Verfechter des schönen Lebens gewesen. Probleme sind nicht seine Welt. Die umgeht er gerne spielerisch. Wenn er sich mal wieder nicht entscheiden konnte, wer in der ersten Elf stehen sollte, löste er die verwickelte Angelegenheit auf seine Art: Die Spieler mussten nacheinander per Abschlag vom Fünfer schießen, und wer am weitesten kam, der stand in der Startelf!

Gutendorf schwörte auf Rahn


Ein Mosaiksteinchen des damaligen Erfolgs war ein ganz besonderer Spieler. Trainer Gutendorf schwörte auf den Weltmeister Helmut Rahn. Man kann auch sagen: Er nahm sich seiner an. "Riegel-Rudi" kaufte ihn 1963 vor der Saison für 60.000 Gulden aus seinem Vertrag in Enschede heraus – gegen die Stimmen eines Großteils der MSV-Verantwortlichen. Rahn hatte in den Wochen zuvor eher private denn sportliche Schlagzeilen geschrieben. Mit seinem Auto war er alkoholisiert in eine Baugrube gefahren. Um eine andere Schwäche des Weltmeisters, die Unpünktlichkeit, besser in den Griff zu bekommen, kaufte Gutendorf ein gemeinsames Pferd für Rahn und ihn. Fortan kümmerten sich die beiden morgens um sieben um das Renntier und gingen danach direkt zum Training. Den Alkohol konnte der Coach Rahn jedoch nicht austreiben. Am Vorabend des Spiels in Köln, so erzählt Gutendorf Jahre später, habe sich der "Boss" eine halbe Kiste Bier reingetan. Am nächsten Tag sei er beim 3:3 der beste Mann auf dem Platz gewesen.

Auf Schalke versuchte er den Spielern Englisch beizubringen, was zu einigen lustigen Verwicklungen führte. Als es schließlich einmal nicht so richtig laufen sollte und eigentlich niemand mehr wusste, was man noch machen könne, um die Lage zu verbessern, hatte Trainer Gutendorf plötzlich einen genialen Einfall. Er bat die Mannschaft auf den Platz, schüttete zwei Berge Wäsche auf den Boden und zündete diese an. In die erstaunten Gesichter seiner Spieler sagte er: "Ihr seid nicht Schuld gewesen an den Niederlagen, die blöden Trikots waren es!"

Zwei Kündigungen in einer Saison


Rudi Gutendorf stellte in den Anfangsjahren der Bundesliga zudem einen neuen Rekord auf. Er war der erste Trainer, dem zweimal in einer Saison gekündigt wurde: auf Schalke und in Offenbach. Dabei war die Stippvisite vom 27.9.1970 bis 23.2.1971 bei den Kickers von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen, wie sich sein Spieler Winfried Schäfer erinnert: "Der traf uns auf dem Flughafen. Gutendorf kam direkt aus Australien, das Hemd bis zum Bauch auf, braungebrannt. Ich wusste gleich, dass der nicht zu uns passt."

Beim Hamburger SV war man im Jahre 1977 sehr optimistisch, mit Rudi Gutendorf einen richtig guten Fang gemacht zu haben. HSV-Manager Dr. Peter Krohn kündigte den neuen Trainer euphorisch an: "Wir Exzentriker werden die Fußballwelt verblüffen!" Der HSV-Manager freute sich sehr auf Gutendorf: "Dann spielen wir Fußball total." Rudi Gutendorf selbst hatte auch schon Pläne: "Vielleicht bringe ich den Spielern als Erstes Spanisch bei. Aber im Ernst: Solche Dinge wie damals in Schalke kann man nicht zweimal machen. Ich bin auch nicht mehr der junge Springinsfeld, der krampfhaft nach neuen Gags sucht." Die Sache wurde ein kurzweiliger Flop, der schnell wieder vorbei war.

Durchaus kurios bereitete sich Hertha BSC in den achtziger Jahren auf eine Saison vor. Der Nachfolger von Trainer Georg Gawliczek wurde öffentlich durch eine Ausschreibung gesucht. Die "alte Dame" bekam Bewerbungsschreiben von Hans Tilkowski, Jörg Berger, Friedhelm Wenzlaff, Adolf Remy, Friedel Rausch, Uwe Kliemann – und natürlich von Rudi Gutendorf. Der Auslandsglobetrotter schickte standesgemäß eine Postkarte von den Fidschi-Inseln! Trotz dieser großen Anstrengungen nahm man ihn damals nicht. Was womöglich auch daran gelegen haben könnte, dass sich Gutendorf ein paar Jahre zuvor nicht so nett über den Verein geäußert hatte: "Hertha gehört in keine Villa, sondern in einen Hühnerstall." Einige Zeit später klappte es dann aber doch noch. 1986 wurde Gutendorf schließlich für knapp dreieinhalb Monate Hertha-Trainer.

Markante Sprüche

Auf seinen Auslandsetappen lernte Gutendorf viel über das Leben ("Auch in einem Land mit schlechten Astronomen regnet es mal – aber ein Land mit schlechten Gastronomen ist eine Wüste") und den Fußball ("Wenn wir auf Unentschieden spielen, dann ist das, als wenn wir unsere Schwester zum Tanz auffordern – da ist nichts drin"). Seine Idee vom Spiel ("Wenn ihr nicht mehr wisst, wohin mit dem Ball, dann haut ihm den Gegner rein") transportierte er in viele Länder. Er brachte auch den Chinesen den Fußball näher, obwohl sie vor seiner Ankunft "nicht mal geradeaus pinkeln, geschweige denn einen geraden Pass schlagen konnten". In Peru meldete er seine berühmte Trainingsanlage "RR-Höfe" zum Patent an. Die 24 Übungsgeräte von Kopfballpendel bis Bleiweste hatten die geschäftstüchtige Konkurrenz bereits auf den Plan gerufen.

1982 sollte Gutendorf eigentlich Kamerun zur WM in Spanien führen. Als ihn das Angebot der Löwen erreichte, war er aber noch Coach in Tansania. Doch dort ließ er sich freistellen und regelte in kürzester Zeit auch alles mit dem DFB. Anschließend sendete er sofort ein Telegramm nach Kamerun und bestätigte den Job. Im offiziellen WM-Programm wurde Gutendorf sogar bereits als Trainer von Kamerun geführt. Doch leider kam sein Telegramm mit der frohen Botschaft nie in Kamerun an. Die 84 Dollar, die der Trainer für die Dienstleistung dem Postboten bezahlt hatte, steckte sich dieser lieber in die eigene Tasche.

Als ihn im Alter von 86 Jahren ein Journalist fragte, ob es ihn noch jucken würde, antwortete Rudi Gutendorf: "Um ehrlich zu sein: Wenn mich heute ein Erst- oder Zweitligaklub bitten würde, ihn zu trainieren, würde ich ihn sofort übernehmen"!

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Quelle: n-tv.de


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