Im Fall des Ende August im Berliner Kleinen Tiergarten erschossenen Georgiers verdichten sich die Hinweise, dass es sich dabei um einen Mord im Auftrag russischer staatlicher Stellen gehandelt haben könnte. Recherchen des SPIEGEL, der investigativen Webseiten Bellingcat und The Insider und des Londoner Dossier Centers zeigen: Staatliche russische Stellen müssen so aktiv bei der Schaffung der falschen Identität des mutmaßlichen Mörders mitgewirkt haben, dass kaum ein anderer Rückschluss möglich ist.
"Die Tat scheint erhebliche und klare politische Fingerabdrücke zu tragen", sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, Norbert Röttgen (CDU), dem SPIEGEL. "Es erscheint unverständlich, weshalb der Fall noch nicht zu einer Sache für den Generalbundesanwalt gemacht wurde." Nichts deute auf einen Mord aus persönlichen Motiven oder eine Tat aus der organisierten Kriminalität hin.
Der Mord hat besondere politische Brisanz, da er an den Anschlag auf den russischen Ex-Agenten Sergej Skripal und dessen Tochter 2018 in Großbritannien erinnert. Ein von einem russischen Geheimdienst auf deutschem Boden verübter Mordanschlag wäre ein diplomatischer Krisenfall.
Bereits eine Woche nach dem Mord an Zelimkhan Khangoshvili hatten der SPIEGEL und seine Recherchepartner berichtet, dass die Identität des mutmaßlichen Täters gefälscht war: Ein russischer Staatsbürger mit dem Namen Vadim Sokolov war von der Berliner Polizei kurz nach dem Mord festgenommen worden. Doch im russischen Reisepasssystem war kein Pass mit seinen Personalien gespeichert. Zudem hatte er eine falsche Adresse in seinem Visumsantrag für den Schengen-Raum angegeben. Sein Reisepass wurde von einer Abteilung des russischen Innenministeriums ausgestellt, die in der Vergangenheit auch Pässe für Agenten des russischen Militärgeheimdienstes GRU ausgestellt hatte.
Das Opfer, der Georgier Khangoshvili, hatte im zweiten Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft. Später arbeitete er jahrelang als Informant und Vermittler für georgische und ukrainische Antiterrorbehörden. Auch US-Dienste profitierten von seinen Kontakten in die schwer zugängliche Kaukasusregion. Nach andauernden Bedrohungen und einem Attentat auf ihn war er zunächst in die Ukraine und später nach Deutschland geflohen.
Dem SPIEGEL, Bellingcat, The Insider und dem Dossier Center liegen nun weitere Informationen vor, die belegen, dass der russische Staat bei der Schaffung der Identität mitgeholfen haben könnte.
In russischen Datenbanken finden sich Spuren, die auf eine kurzfristige "Erschaffung" von "Sokolovs" Identität vor dem Mord am 23. August in Berlin schließen lassen.
So findet sich in der aktuellen Datenbank für nationale russische Ausweispapiere ein Sperrvermerk für seine Personalien: "Vom Gesetz geschützte Person... kontaktieren Sie einen Administrator, um die Akte zu erhalten." Solche Vermerke fanden sich in Datenbanken nach der Enttarnung der mutmaßlichen Attentäter des russischen Ex-Agenten Sergej Skripal durch Bellingcat auch bei den Personalien anderer russischer Geheimdienstmitarbeiter.
Erst die Steuernummer - sechs Tage später der Visumsantrag
Eine weitere Auffälligkeit findet sich in der russischen Steuerdatenbank: Am 16. Juni 2019, im Alter von 49 Jahren, taucht "Sokolov" darin erstmals auf. Da russische Staatsbürger mit dem Antreten einer Arbeitsstelle in dieser Datenbank automatisch registriert werden, müsste er erst mit fast 50 Jahren erstmals in seinem Leben gearbeitet haben.
Wahrscheinlicher ist, dass der Eintrag erstellt wurde, um ihm die Beantragung eines Visums für den Schengen-Raum zu erleichtern. Nur sechs Tage, nachdem "Sokolov" am 23. Juli 2019 eine Steuernummer zugeteilt worden war, beantragte er ein Visum für den Schengen-Raum bei der französischen Botschaft, kurz nachdem er unter diesem Namen auch erstmals einen russischen Reisepass bekommen hatte.
Die Abfolge dieser Ereignisse legt nahe, dass die Identität "Vadim Sokolov" mit beträchtlichem Aufwand erst wenige Wochen vor dem Mord in Berlin angelegt wurde. Obwohl sein nationales russisches Ausweisdokument angeblich bereits 2015 ausgestellt wurde, ist es in früheren Offline-Versionen von Datenbanken mit Ausweisdokumenten nicht auffindbar.
Nachfragen an der Adresse, an der "Sokolov" laut seiner Steuerakte leben sollte, führten zu keinem Erfolg. In der dort angegebenen Wohnung öffnete ein alter Mann diese Woche die Tür. Er sagte, er habe noch nie von einem "Sokolov" gehört und wisse nicht, ob jemals ein Mann mit diesem Namen dort gewohnt habe.
Die Recherchepartner SPIEGEL, Bellingcat, The Insider und Dossier Center hatten bereits wenige Tage nach dem Mord am 23. August in Berlin einen Hinweis bekommen, wer sich hinter der Identität von "Sokolov" verbergen könnte. Ein ähnlicher Hinweis soll zum gleichen Zeitpunkt das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) erreicht haben.
Recherchen des SPIEGEL und seiner Partner führten allerdings zu dem Schluss, dass dieser Hinweis höchstwahrscheinlich falsch ist.
Die Suche geht weiter - was verrät die SIM-Karte?
Am Donnerstag berichtete die "New York Times", "Sokolovs" richtiger Name sei Vladimir Andreewitsch Stepanov. Er sei ein verurteilter Mörder.
Diese Personalie hatte dem SPIEGEL und seinen Partnern mehrfach vorgelegen. Allerdings ergab ein von der Universität Bradford angefertigter, forensischer Fotoabgleich von Stepanov und "Sokolov" keine Übereinstimmung. Des Weiteren lagen Aussagen vor, dass Stepanov nach wie vor in Haft sitze.
Ermittler in Deutschland glauben ebenfalls nicht, dass die Namen "Stepanov" und "Sokolov" zur gleichen Person führen. Das Ganze sei aller Wahrscheinlichkeit nach "eine Sackgasse", hieß es in Sicherheitskreisen, es passe "viel nicht zusammen".
Für die Ermittler geht damit die Suche nach "Sokolovs" wahrer Identität weiter. Eine besondere Rolle könnte dabei ein kleines Plastikteil spielen: "Sokolov" war nach Berlin über Paris und Warschau gereist. In seinem Hotel in Warschau gelang es, eine russische Sim-Karte sicherzustellen. Sie ist inzwischen in Deutschland. Die Ermittler erhoffen sich wertvolle Erkenntnisse aus ihrer Auswertung.
Quelle : n-tv.de
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