„Sollte die Nato ‚hirntot‘ sein, liegt das daran, dass die meisten Regierungen der europäischen Transatlantiker ebenfalls ‚hirntot‘ sind, aufgrund von Trägheit, Angst vor Verantwortung, Amerikanisierung des Geistes, der alten Vision der Transatlantiker und der aufhaltenden Wirkung des Kalten Krieges, denn reaktionäre transatlantische Netzwerke profitieren wohl auch von den Waffengeschäften“, sagt der Gründer der Brüsseler Denkfabrik Eurocontinent, Dr. Pierre-Emmanuel Thomann, gegenüber Sputnik.
Damit kommentiert er die Absage seines Präsidenten gegenüber dem Vorschlag Wladimir Putins zum Raketen-Moratorium, die Macron in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Donnerstag erteilte. Noch am Vorabend berichtete die F.A.Z über den Brief Macrons an Putin, in dem der französische Präsident den Vorschlag seines russischen Kollegen vermutlich begrüßte und diesen „eingehend prüfen“ wollte. Ende September war bekannt gegeben worden, dass Wladimir Putin den Nato-Staaten schriftlich einen gegenseitigen Verzicht auf die Stationierung landgestützter atomarer Mittelstreckenraketen in Europa vorgeschlagen hatte, mit Bereitschaft zu „gewissen Verifizierungsmaßnahmen“.
„Den Alleingang wird Macron nicht wagen“
Offensichtlich hätten der Nato-Generalsekretär und die Partner den Alleingang Macrons gebremst und diese Abfuhr abverlangt, kommentiert Dr. Thomann weiter. Macron sei trotz seiner Signale an Russland doch kein Europäer wie de Gaulle, der das atlantische Bündnis zwar bewilligt habe, Frankreich aber aus dem integrierten Nato-Kommando zurückgezogen habe samt mehrmaligen Vetos gegen die Handlungen Großbritanniens innerhalb der damaligen Europäischen Gemeinschaft.
„Macrons Kommentar zum „Hirntod“ der Nato war jedoch eine kalkulierte subversive Botschaft, um zu warnen, dass Frankreich nicht bereit ist, Lastenteilungsthemen zwischen US- und EU-Bürgern zu diskutieren, ohne den Hauptfeind der Verbündeten neu zu definieren“, fährt Thomann fort.
So betonte Macron auf der Pressekonferenz mit Stoltenberg erneut, der Gegner seien nicht Russland und China, sondern der islamische Terrorismus. „Stoltenberg sagte dagegen, dass die Nato die Bedrohung durch Russland und China bewältigen müsse“, verweist Thomann. Die geopolitischen Prioritäten Frankreichs liegen laut dem Experten im südlichen Krisenbogen der Sahelzone mit dem Terrorismus als Gegner, und Macron dürfte die EU-Partner mehr in diese Richtung bewegen wollen.
„Aber nichts wird geschehen, solange die EU-Partner widersprechen und besonders Deutschland das EU-Projekt als ein Nebenprodukt der Nato wahrnimmt“. Eine strategische europäische Autonomie als Idee Macrons sei daher eine Illusion. Den Alleingang werde Macron nicht wagen, und subversive Botschaften würden ohne Implementation nur Botschaften bleiben. „Sie werden zwar als ein Sieg Frankreichs serviert, vermögen es aber nicht, die aktuelle geopolitische Balance zu ändern“.
„Tatsächlich ist Macron aber lieber dabei...“
Zwar hat Macron auf der Pressekonferenz mit Stoltenberg Putins Vorschlag als „eine Grundlage für weitere Diskussionen“ angenommen, die öffentliche Ablehnung erachtet Thomann aber als eine „verfehlte Chance“. „Für diese transatlantischen Gesinnungsgenossen ist jede Abrüstungs- oder Rüstungskontrollinitiative, erst recht, wenn sie vom ‚Gegner‘ kommt, eine existentielle Bedrohung“, kommentierte seinerseits der deutsche Sicherheitsexperte Dr. Siegfried Fischer den fehlenden Mut der Bundesregierung.
Viele fundierte und vernünftige Experten würden wissen, so Thomann weiter, dass Frankreich und Europa eine neue europäische Sicherheitsarchitektur mit Russland brauchen würden. Paris könnte theoretisch aus dem „Hirntod“ der Nato, die den europäischen Interessen nicht weiter entspreche, lernen, und sich von der Nato ein Stück weiter distanzieren, um selbst nicht vom „Hirntod“ betroffen zu sein.
In der neuen geopolitischen Rivalität zwischen Frankreich und Deutschland habe Macron sich schon mal an Russland als eine mögliche balancierende Macht gewendet, so Thomann, und das könnte eben ein Backstein für stärkere bilaterale Beziehungen mit Russland sein. Die kreative Krise der EU wäre aus Sicht des Experten eine Chance für Macron, das geopolitische Gleichgewicht zu verändern und andere Partner zu Verhandlungen mit Russland zu zwingen, so wie de Gaulle eine Krise als eine neue Chance genutzt habe. „Tatsächlich ist Macron aber lieber dabei, seine transatlantischen Partner zu beruhigen“, sagt der Experte enttäuscht zum Schluss.
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