Geht die Nato etwa langsam, doch unaufhaltsam unter? Nach dem jüngsten Jubiläumsgipfel in London ist der Präsident der Denkfabrik IPSE, Emmanuel Dupuy, in einem Interview für Sputnik auf die Fragen eingegangen, die vor der Nordatlantischen Allianz stehen, auf ihre Zukunft und den Streit der Präsidenten Frankreichs und der USA, Emmanuel Macron und Donald Trump, während des Gipfels.
Syrien, Terrorbekämpfung, Handelsbeziehungen, europäische Politik der nuklearen Abschreckung und selbst die Rolle der Nato – zu all diesen Aspekten stehen die beiden Spitzenpolitiker auf entgegengesetzten Positionen. Hinzu kommt der Konflikt zwischen Macron und anderen europäischen Spitzenpolitikern auf der einen Seite und dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan auf der anderen Seite – sie werfen einander vor, die Terroristen im Nahen Osten zu unterstützen.
Das alles lässt vermuten, dass die Nato beinahe im Sterben liegt. Dennoch ist Emmanuel Dupuy, Experte für Sicherheit und internationale Beziehungen, nicht so skeptisch. Nach seinen Worten ist das Bündnis mehr denn je entschlossen, seine Positionen dank diesen unangenehmen Zwischenfällen noch weiter zu festigen.
- Was denken Sie über das gestrige Treffen von Emmanuel Macron und Donald Trump? Kann man sie Verbündete nennen, wenn ihre Kontroversen zu solch wichtigen Fragen so groß sind?
- Ich denke nicht, dass man die Worte der Präsidenten auf dieser Pressekonferenz allzu analysieren muss. Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass sie aneinander solch sauer-süße Worte richten. Die Problemfragen sind allgemein bekannt: Handelskrieg und Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die Nato-Zukunft, die allerdings nicht allzu groß sind.
Deshalb denke ich, dass diese Worte nicht überbewertet werden sollten, denn zur Abkühlung zwischen den Präsidenten war es schon früher gekommen, unter anderem nach dem G7-Gipfel in Biarritz. Das passt in die Beziehungen, bei denen es sich um Beziehungen nicht nur von Verbündeten, sondern auch von Gegnern handelt. Diese zwei Länder sind nach wie vor Verbündete aus militärischer Sicht, aber auch Konkurrenten aus wirtschaftlicher Sicht. Deshalb muss man sich einfach daran gewöhnen, dass der Ton zwischen beiden Atlantik-Küsten härter wird. Aber ich wage einmal zu sagen, dass das auch gut ist.
- Dennoch gibt es Kontroversen, sogar in Bezug auf solche Fragen, wo es eigentlich keine Kontroversen geben sollte – wie etwa der Terrorbekämpfung. Das sind sogar nicht nur verbale Kontroversen, sondern auch praktische …
- Wenn Sie jetzt fragen, ob Frankreich aus der Nato austreten wird, dann ist die Antwort: nein. Politische Entscheidungen werden nicht deswegen getroffen, weil diese oder jene Worte ausgesprochen werden. Trump und Macron sind unterschiedlich, aber sie sind in der Hinsicht ähnlich, dass sie Politik zur Show machen. Besonders wenn man bedenkt, dass an dieser Pressekonferenz nur zwei von insgesamt 28 Akteuren teilnahmen.
Man kann allerdings sagen, dass ausgerechnet Präsident Macron versuchen könnte, von der Abwesenheit Donald Trumps zu profitieren, dem zu Hause die Amtsenthebung droht. Emmanuel Macron würde gerne Donald Trump im Kampf um die Führung ablösen – einerseits in der Europäischen Union, vor allem aber in der Nato. Vielleicht lässt sich seine Absicht, die Karten neu zu mischen und einige „unbequeme“ Fragen aufzuwerfen, gerade darauf zurückführen.
- Was die Türkei angeht: Kann man weiterhin Verbündeter eines Landes bleiben, das uns vorwirft, wir würden Terroristen unterstützen, wobei wir ihm dasselbe vorwerfen?
- Die Allianz zählt 29 Mitglieder, und bald werden es 30 sein. Deshalb können die Spannungen zwischen nur zwei von 29 Mitgliedern die Allianz an sich nicht in Frage stellen. Es gibt tatsächlich eine Konfrontation zwischen den Türken und dem französischen Präsidenten, der offen sagt, was viele Mitglieder des Bündnisses denken. Er verweist darauf, dass die Türken gleich an mehreren Fronten kämpfen und glauben, gewisse Regeln verletzen zu dürfen und die Präsenz der französischen, englischen und amerikanischen Spezialtruppen in Syrien zu ignorieren. Das ist problematisch, aber man kann dafür aus der Allianz nicht ausgeschlossen werden.
- Was die Politik der nuklearen Abschreckung in Europa angeht: Halten Sie Macrons Aufruf zur „Klärung“ der Situation für einen Schritt entgegen der russischen Initiative zu einem Moratorium auf die Stationierung von Atomwaffen mittlerer und geringer Reichweite?
- Was Atomwaffen angeht, so gehört das letzte Wort den Amerikanern. Denn sie waren diejenigen, die sich für den Ausstieg aus dem INF-Vertrag entschieden haben. Das zwang Russland, auch den Vertrag zu kündigen, obwohl es ihn seit 1987 gibt.
Meines Erachtens sollten Emmanuel Macron und auch die anderen europäischen Politiker sich selbst hinsichtlich der europäischen Verteidigung und strategischen Selbstständigkeit fragen, denn Europa liegt zwischen beiden atomaren Supermächten. Und eben dazu werden wir 2027 kommen, indem wir 13 Milliarden Euro für das Programm zur Entwicklung der Panzer und Flugzeuge der Zukunft ausgeben.
- Aber wird ein strategisch selbstständiges Europa nicht eine Quelle der Sorgen für die Amerikaner sein, die ihren Einfluss auf die europäischen Länder (auch in militärischer Hinsicht) gerne behalten wollen?
- Das ist eben das Paradox zwischen der amerikanischen und französischen Strategie und der Theatralik der Pressekonferenz der zwei Präsidenten. Letztendlich sind sie einverstanden, dass sie an einer größeren strategischen Selbstständigkeit der europäischen Länder interessiert sind. Das bedeutet nicht, dass das endgültige Ziel darin besteht, dass die USA aus der Nato austreten. Das bedeutet, dass die Europäer mehr Verantwortung für ihre Verteidigungsstrategie übernehmen sollten – und deshalb sollten sie ihre Militäretats aufstocken. Das ist eben das, wovon Trump redet – jeder sollte seine Beiträge zur Allianz leisten.
- Also ist die Allianz aus Ihrer Sicht nach wie vor geeint – trotz der Meinungsverschiedenheiten?
- Genau. Zumal ich denke, dass es zu einer Korrektur der Strategie der Allianz kommen wird, die allmählich versteht, dass die Gefahren nicht mehr so sind wie vor 60 Jahren. Heute stammt die Gefahr aus dem Süden und Osten, und es kommen noch der Cyber- und der Weltraum hinzu. Noch gibt es gemeinsame Interessen in Zentralasien, in der Arktis und im „schwarzen“ Afrika. Früher gab es keine solche Einheit der Interessen, und gerade deshalb ist die Allianz sehr gefragt, obwohl man sich an sie bisher nicht besonders oft wandte. Der türkische Präsident hat in einem gewissen Sinne Recht, wenn er sagt, dass man nicht nur die Nato-Kräfte im Ostseeraum konzentrieren, sondern auch auf andere Gefahren achten sollte, insbesondere auf hybride Konflikte.
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