Genau vor 30 Jahren wurde das Abkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft und der Sowjetunion über den Handel und die handelspolitische und wirtschaftliche Zusammenarbeit unterschrieben. Das Datum bezeichnet Lawrow als einen Ausgangspunkt für den Aufbau der offiziellen Beziehungen zwischen Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion und der späteren Europäischen Union. 1994 wurde dazu noch das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und allen Staaten in Osteuropa und Zentralasien mit Ausnahme von Tadschikistan und Weißrussland vereinbart.
Am Rande des Russland-EU-Gipfels in St. Petersburg 2003 habe man einen weiteren Schritt zur Überwindung der Spaltungen Europas unternommen, erinnert sich der russische Außenminister und meint damit die Einigung über den Aufbau einer strategischen Partnerschaft in vier Bereichen, nämlich in Wirtschaft, Außensicherheit, Freiheit und Recht, Wissenschaft und Bildung und Kultur. Wären diese gemeinsamen Projekte vollbracht worden, hätten sie „allen Bewohnern unseres gemeinsamen Kontinents“ greifbare Dividenden gebracht, so Lawrow, wie etwa Visafreiheit, eine Zusammenarbeit der Sicherheitsdienste gegen den Terrorismus und die organisierte Kriminalität, eine gemeinsame Regelung der regionalen Krisen sowie die Gestaltung einer Energieunion.
„Gleichberechtigte Zusammenarbeit durch Illusion ersetzt, dass…“
„Es war jedoch nicht möglich, die Nachhaltigkeit der erklärten Partnerschaft in den Beziehungen zwischen Russland und der EU sicherzustellen“, bedauert Lawrow.
Leider sei „für viele im Westen“ die gesamteuropäische Perspektive nur durch das Prisma des „Sieges im Kalten Krieg“ wahrgenommen worden. Die Prinzipien einer gleichberechtigten Zusammenarbeit seien durch die Illusion ersetzt worden, dass die euro-atlantische Sicherheit nur um die Nato herum aufgebaut werden und das Konzept Europas ausschließlich mit der Europäischen Union in Verbindung gebracht werden sollte. Alles andere sei als eine Art „konzentrischer Kreise“ um diese „Legitimationszentren“ deklariert worden, meint der 69-Jährige. Man habe Russland aufgefordert, „fertige“, innerhalb der EU bereits „geschweißte“ Entscheidungen zu treffen, die „weder eine Diskussion mit uns noch die Berücksichtigung russischer Interessen beinhalteten“.
Die Brüsseler Partner hätten schamhaft verschwiegen, dass das Konzept für die vier gemeinsamen Räume zwischen Russland und der EU aus dem Jahre 2003 auf einem gegenseitigen Verständnis der Gefahren beruht habe. Die Versuche, die gemeinsamen Nachbarn vor die Wahl „EU oder Russland“ zu stellen, seien 2013 als kontraproduktiv bezeichnet worden. Noch vor 2014 sei der Start der EU-Initiative der Östlichen Partnerschaft, die im Wesentlichen darauf abgezielt hätte, die seit Jahrhunderten mit Russland verbundenen engsten Nachbarn von Russland zu trennen, von Moskau als „ein alarmierendes Zeichen in den Beziehungen zwischen Russland und der EU“ aufgenommen worden. „Die traurigen Folgen dieser selbstsüchtigen Politik sind bis heute zu spüren,“ so Lawrow.
Auch bemängelt der Chef des russischen Außenministeriums, dass der Begriff „Europa“ im Brüsseler Lexikon zum Synonym für „Europäische Union“ geworden sei und angenommen werde, dass nur die EU-Mitglieder ein „echtes“ Europa seien, wobei die anderen Länder des Kontinents sich ebenfalls den „hohen Rang der Europäer“ verdienen.
Ein solcher Ansatz sei zutiefst „verdorben“ und komme dem europäischen Integrationsprojekt sicher nicht zugute. „Geografisch, historisch, wirtschaftlich und kulturell war, ist und bleibt Russland ein integraler Bestandteil Europas“, beharrt Lawrow.
„Neubeginn unserer Beziehungen“
Trotz der Widersprüche würden Russland und die EU wichtige Handels- und Wirtschaftspartner bleiben, sagt Lawrow weiter, aber auch die größten Nachbarn, die in der Lage seien, die gemeinsame Verantwortung für Frieden, Wohlstand und Sicherheit „in diesem Teil Eurasiens“ unabhängig zu tragen. Es freut Lawrow offenbar, dass es „immer mehr Anzeichen dafür gibt“, dass sich „unsere EU-Partner allmählich der Anomalie des aktuellen Zustands bewusst werden“. Nach einer gewissen Stagnation habe sich die Dynamik der Interaktion mit den meisten EU-Mitgliedstaaten wiederbelebt. Es hätten bereits erste Kontakte mit der neuen Führung der Europäischen Union stattgefunden.
Lawrow ist sich sicher: Der nächste institutionelle Zyklus in der EU bietet objektiv die Möglichkeit eines „Neubeginns unserer Beziehungen“. Dies ist laut Lawrow wenigstens eine Gelegenheit, ernsthaft darüber nachzudenken, „wer wir in einer sich schnell verändernden Welt füreinander sind“. Er hoffe darauf, dass die Entscheidungsträger in der EU sich an den Geboten der Großen Europäer Charles de Gaulle und Helmut Kohl orientieren würden, die in den Kategorien „eines gemeinsamen europäischen Hauses“ gedacht hätten.
„Ich bin überzeugt, dass die Aufrechterhaltung der Identität und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Kulturen und Volkswirtschaften im Zuge der Globalisierung nur möglich ist, wenn die komparativen Vorteile aller Länder und Integrationsverbände unseres gemeinsamen Eurasiens addiert werden.“ Dieses sei jedoch nicht im Vakuum, sondern in einer multipolaren Welt im Blick auf die neuen Finanz- und militärischen Machtzentren in der Region Asien-Pazifik als „neue Realien“ möglich.
„Leider wurde diese Idee später in Brüssel abgekühlt“
Angesichts der anhaltenden internationalen Turbulenzen ist für Lawrow die Hoheit des Völkerrechts erstrangig, aber nicht der Variante, die in Wirklichkeit eine im Westen erfundene Ordnung sei, die nur den eigenen Interessen unterliege: „Wir sehen die Europäische Union als eines der Zentren einer multipolaren Welt.“ Man ziele weiter darauf ab, die Beziehungen zur EU unter Beteiligung der Staaten der Eurasischen Wirtschaftsunion, der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), des Verbandes Südostasiatischer Nationen (ASEAN) und aller anderen Länder des Kontinents als eine größere eurasische Partnerschaft vom Atlantik bis zum Pazifik zu bilden. Der Zusammenschluss der Potenziale der beiden großen regionalen Märkte – Europas und Asiens – werde auch künftig Situationen vermeiden lassen, in denen unsere „gemeinsamen Nachbarn“ wieder künstlich vor einer primitiven Entscheidung stehen, meint Lawrow – entweder mit der EU oder mit Russland weiterzugehen.
Die Prinzipien für solch eine Partnerschaft seien bereits in gemeinsamen Dokumenten angelegt worden, erinnert Lawrow, darunter auch in dem beim EU-Russland-Gipfel in Moskau beschlossenen Dokument zur gemeinsamen Außensicherheit vom 10. Mai 2005. Lawrow verweist weiter auf die am 19. November 1999 unterschriebene Charta für europäische Sicherheit, die auch Russland unterstützt habe.
Das wünscht sich Lawrow von Russland-EU-Beziehungen
„Leider wurde diese Idee später in Brüssel (...) abgekühlt. Auf einer Tagung des OSZE-Ministerrates am 5. und 6. Dezember 2019 in Bratislava blockierten die westlichen Länder den russischen Vorschlag, die erwähnte Initiative, die einen gleichberechtigten europaweiten Dialog unter Beteiligung der EU, der GUS-Staaten, der Nato und der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (CSTO) beinhaltet, zu bestätigen. Es stellt sich heraus, dass die EU und die Nato, die ihre Idee vor 20 Jahren einbrachten, vom Vertrauen in ihre Dominanz getrieben wurden und nun Angst vor der Konkurrenz seitens der GUS-Staaten haben und vor einem direkten gleichberechtigten Dialog mit ihnen Abstand nehmen.“
In dieser Hinsicht ruft Lawrow die EU nachdrücklich auf, sich von den in den Dokumenten über die Grundlagen der Beziehungen zwischen Russland und der EU verankerten Grundprinzipien leiten zu lassen und keine Konstruktionen zu erfinden, die irgendein „erzwungenes Zusammenleben“ vorsehen würden. „Vor uns liegen häufige Bedrohungen und Herausforderungen: Terrorismus, Drogenhandel, organisierte Kriminalität, illegale Migration und vieles mehr. Es ist unwahrscheinlich, dass Beschränkungen der Zusammenarbeit mit unserem Land die Perspektiven der Europäischen Union selbst in der modernen Welt verbessern würden“, sagt Lawrow und bestätigt, Russland sei offen „für eine für die beiden Seiten vorteilhafte, gleichberechtigte und pragmatische Zusammenarbeit – im Einklang mit den Interessen unserer Verbündeten und aller anderen Partner in Eurasien“. Nur so könne ein tragfähiges Modell langfristiger Beziehungen aufgebaut werden, das den Interessen und Bestrebungen der Länder und Völker des gesamten eurasischen Kontinents entspreche, schreibt Lawrow zum Schluss.
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