Wie ist das Chaos in Libyen entstanden?
42 Jahre lang herrschte Muammar al-Gaddafi gnaden- und skrupellos über Libyen, das reich an Erdöl ist. Bis er im Februar 2011 Protestler des Arabischen Frühlings umbringen ließ und mit einem Massaker an der eigenen Bevölkerung drohte. Legitimiert durch eine Resolution der Vereinten Nationen (UN) bombardierten kurz darauf Frankreich, Großbritannien und die USA libysches Militär. Durch ihre Luftangriffe ermöglichten sie es Rebellen, die Hauptstadt Tripolis einzunehmen und Gaddafi auszuschalten, der umgebracht wurde. Doch für die Zeit danach fehlte den Westmächten eine politische Strategie und auch das Interesse. Sie überließen Libyen sich selbst, mit schwerwiegenden Folgen.
Statt dass die Milizen entwaffnet worden wären, plünderten sie Gaddafis üppiges Waffenlager und begannen, sich gegenseitig erbittert zu bekämpfen. Zwei Regierungen stritten um die Macht im Land - die in Tripolis galt als islamistisch, die im östlichen Tobruk führte der ehemalige Gaddafi-General Chalifa Haftar an. Der Kampf um die Macht forderte seit 2011 Tausende Menschenleben, zerstörte Krankenhäuser und Schulen. 2016 setzten die UN Fajis al-Sarradsch als Premier in Tripolis ein.
Diese beiden Männer - Haftar und al-Sarradsch - sind die Gegner im aktuellen, blutigen Kampf um die Macht und das Geld aus dem Ölgeschäft in einem kaputten Land. Beide saßen am Sonntag getrennt voneinander im Berliner Kanzleramt, während die Teilnehmer der Libyen-Konferenz über Wege zum Frieden verhandelten.
Warum ist das Chaos in Libyen für Europa bedrohlich?
In den Jahren nach dem Tod Gaddafis kamen Tausende Dschihadisten ins Land und nutzten das Chaos, um eigene Strukturen aufzubauen und Libyen zu einem wichtigen strategischen Stützpunkt zu machen. Für die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) wurde Libyen immer wichtiger, da sie in Syrien und im Irak durch die Bombardements der Anti-IS-Koalition stark unter Druck kam und immer mehr Macht verlor. In Libyen konnte sie Fuß fassen, Ausbildungslager gründen und Kämpfer rekrutieren. 2015 brachten die Dschihadisten unter anderem die wichtige Hafenstadt Sirte unter ihre Kontrolle, waren sogar im internationalen Ölgeschäft aktiv.
Ein Jahr später gelang es mehreren Milizen mit US-Unterstützung, dem IS sein Territorium wieder abzunehmen. Die Terrorgruppe wurde jedoch nicht geschlagen, sondern kämpfte im Untergrund weiter, mit Anschlägen und Entführungen. Je tiefer Libyen nun wieder im Bürgerkriegschaos versinkt, desto einfacher ist es für den IS, Boden gut zu machen und seine Machtstrukturen wieder auszubauen - die Terrorgefahr steigt damit.
Das Chaos in Libyen, die fehlende Staatsmacht und Kontrolle ermöglichen Kriminellen Geschäfte selbst mit Menschen. Flüchtlinge aus anderen afrikanischen Staaten, die über Libyen nach Europa kommen wollen, werden abgefangen und von Menschenhändlern als Arbeitssklaven verkauft. Kriminelle Schleuser schicken zahlende Flüchtlinge in untauglichen Booten aufs Mittelmeer. Viele der Boote stellt die libysche Küstenwache und bringt die Flüchtlinge zurück an Land, wo sie in Lagern unter unmenschlichen Bedingungen eingesperrt werden. Die EU kooperiert mit der libyschen Küstenwache und erntet dafür harsche Kritik von Menschenrechtsorganisationen. Europa braucht in Libyen eine verlässliche Regierung, mit der die EU in Migrationsfragen zusammenarbeiten kann.
Warum ist es so schwierig, den libyschen Bürgerkrieg zu beenden?
Ähnlich wie in Syrien hat sich der Bürgerkrieg in Libyen zu einem Stellvertreterkrieg ausgeweitet, in dem viele Regionalmächte und sogar EU-Staaten ihre Strippen ziehen. Haftar bekommt Unterstützung von Ägypten, Saudi-Arabien, den Vereinigen Arabischen Emiraten, aber auch von Frankreich. Russische Söldner kämpfen auf seiner Seite, die aber laut Präsident Wladimir Putin nicht von der Regierung entsandt wurden. Man kann jedoch davon ausgehen, dass er ihren Einsatz zumindest billigt.
Al-Sarradsch konnte bislang auf Katar und die Türkei setzen, wurde aber auch von Italien mit Waffen versorgt. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat dem libyschen Ministerpräsidenten mittlerweile Soldaten und Söldner geschickt. Er steht offen hinter dieser Entscheidung, da ihn Al-Sarradsch um Unterstützung gebeten habe und dessen Regierung ja international anerkannt ist.
Hier liegt eine der größten Hürden für den in Berlin verabschiedeten Friedensplan: Zwar haben sich die Staatschefs auf die Verpflichtung geeinigt, sich "nicht in den bewaffneten Konflikt in Libyen und in die inneren Angelegenheiten Libyens einzumischen". Verstöße dagegen soll der UN-Sicherheitsrat mit Sanktionen ahnden. Wenn jedoch Putin beteuert, mit den Söldnern nichts zu tun zu haben oder Erdogan sich auf das Hilfeersuchen der Regierung beruft, wäre es schwierig, in solch einem Fall zu sanktionieren.
Das Waffenembargo - ein weiterer Punkt des Berliner Friedensplans - gibt es schon seit 2011, und es wurde in der Vergangenheit regelmäßig unterlaufen, sogar von EU-Staaten. Entscheidend wird also sein, ob die Staatschefs selbst den Willen haben, an Frieden in Libyen mitzuwirken. Anders gesagt: Ob sie das, worauf sie sich in Berlin geeinigt haben, wirklich ernst meinen.
ntv
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