Oder dass der Kölner Dom eine Dauerbaustelle ist und auch bleiben wird? Dass seine Glocke im 19. Jahrhundert aus erbeuteten französischen Kanonen gegossen wurde? 1918 aber aus der Glocke wieder Kanonen gebaut wurden? Dass dort nicht nur dauernd Einzelteile erneuert werden, sondern auch die Eier der Tauben gegen Gips-Eier ausgetauscht werden, um eine unkontrollierte Vermehrung der Federtiere zu verhindern? Dass die prächtige Kirche zur Zeit der napoleonischen Besetzung als Pferdestall, Kornkammer und Lazarett benutzt wurde?
Das alles und vieles anderes mehr erfährt man im neu erschienen Buch von Michael Jürgs „Wer Wir Waren, Wer Wir Sind. Wie Deutsche ihre Geschichte erleben.“ Darin führt der Autor die Leser an 25 Orte, die in der deutschen Geschichte eine Rolle gespielt haben. Diese reichen von historischen Orten bis hin zu in neuerer Zeit entstandenen, vom Kölner Dom bis zum in diesem Jahr gebauten DFB-Museum in Dortmund. Von Museen wie dem Haus der Geschichte in Bonn bis zu Seen wie dem Herrenchiemsee in Bayern, wo die Grundlagen der Bundesrepublik ausgearbeitet wurden. Von Städten wie Wolfsburg bis Inseln wie Sylt. Das Holocaust-Mahnmal in Berlin darf dabei genauso wenig fehlen wie das Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen, das die Diktatur im Osten des Landes dokumentiert. Ohne die bliebe auch die Erinnerung an die deutsche Einheit irgendwie unvollständig.
Michael Jürgs ist Journalist, was man auch an der Sprache des Buches merkt. Er gibt an, für die Auswahl der Orte zwei Kriterien angewendet zu haben: Erstens müsse es belegbar sein, dass der Ort wesentlich in der deutschen Geschichte war. Zweitens sollte der Schauplatz „so viel Anziehungskraft ausstrahlen, dass sie als Touristen dorthin reisen, um vor Ort ihre Geschichte zu erleben“.
Der Leser erfährt sehr viel über die Geschichte, über Orte, die sich in das Bewusstsein des Landes eingebrannt haben. Die Lektüre macht Lust, manche der Stätten zu besuchen. Macht man dies, so wird man den besuchten Ort viel bewusster erleben, da man einiges schon weiß, auch einiges, das durchaus als Insider-Wissen angesehen werden könnte.
Wer vergessen wurde
Der Mangel aus meiner Sicht: Die deutsche Gesellschaft ist nicht mehr das, was sie mal vor 50 Jahren war. Das Stadtbild hat sich geändert, in vielen Städten sieht man Nachkommen der Gastarbeiter, die vor einem halben Jahrhundert gekommen sind. Viele von ihnen mögen schon tot sein und allmählich aus dem Stadtbild verschwinden. Ihre Nachkommen sind da.
Hätte aber der Autor nicht etwas finden können, das auch diesen Aspekt abgedeckt hätte? Beispielsweise den Hauptbahnhof München, wo die Gastarbeiter ankamen, die schöne Stadt Mörfelden-Walldorf, wo die türkischsprachige Presse heute ums Überleben kämpft? Oder vielleicht die neu gebaute Moschee in Köln? Gehört das alles nicht auch zu Deutschland?
Wie sehr sich die deutsche Gesellschaft verändert hat, vor allem in ihrer Mentalität, soll ein Auszug aus dem Kapitel über das DFB-Museum in Dortmund illustrieren. Bekanntlich wurden die deutschen Fußball-Frauen 2007 Weltmeister.
Vor 60 Jahren war der DFB jedoch noch strikt gegen Frauen-Fußball. Begründung: „Ein Jahr nach dem WM-Sieg der Männer verbot der Verband all seinen Vereinen, sogenannte Damenfußballabteilungen zu gründen, weil im Kampf um Bälle `weibliche Anmut` verschwinde, weil `Körper und Seele` Schaden erleiden würden und weil überhaupt Sitte und Anstand verletzt würden durch `Zurschaustellen des Körpers`“.
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