Will Boris Johnson als ein Großer seines Landes in die Geschichte eingehen, steht dem britischen Premierminister dazu kaum noch etwas im Wege. Nach seinem Wahlsieg im Dezember und dem Vollzug des EU-Austritts am 31. Januar kann er Großbritannien nach seinem Willen umgestalten, eine Ära Johnson einleiten. Doch es gibt etwas, das ihm seinen Platz in den Geschichtsbüchern mit einem Makel versehen könnte: Schottlands Drang nach Unabhängigkeit.
Nördlich des Hadrianswalls scheint der Zauber nicht zu wirken mit dem Johnson die Engländer dazu gebracht hat, zuerst für den Brexit zu stimmen und ihn dann auch noch im Regierungssitz Downing Street zu bestätigen. In Schottland ist der blonde Politiker denkbar unpopulär. Will Johnson nicht als letzter Premierminister des Vereinigten Königreichs verewigt werden, muss er diesen Fluch brechen. Doch in Schottland herrscht nicht nur ein anderes Wetter, sondern auch ein anderes politisches Klima als im Rest des Königreichs. Nicht der Brexit, sondern die mögliche Loslösung von London ist das bestimmende Thema in dem Landesteil mit etwa 5,4 Millionen Einwohnern. Johnsons Tories gingen in Schottland geschwächt aus der Parlamentswahl hervor, die linksgerichtete Schottische Nationalpartei SNP triumphierte und holte 48 der 59 Mandate.
"Werden gegen unseren Willen aus EU gerissen"
Johnsons ärgste Widersacherin heißt Nicola Sturgeon, die SNP- und Regierungschefin in Edinburgh hat es sich zum Ziel gesetzt, Schottland zur Unabhängigkeit zu führen. Sie fordert eine Volksabstimmung noch in diesem Jahr. Johnson lehnt das ab. Die Frage sei bereits beim Referendum 2014 für eine ganze Generation entschieden worden, so die Begründung des Premiers. Damals stimmten 55 Prozent der Schotten gegen die Abspaltung. Sturgeon argumentiert, die Lage habe sich seit dem EU-Referendum 2016 verändert. Rund 62 Prozent der Schotten votierten gegen den Brexit. Sie wurden aber von den Austrittsbefürwortern in England und Wales überstimmt. "Wir werden gegen unseren Willen aus der EU gerissen", kritisiert die SNP-Chefin immer wieder. Doch Sturgeon weiß auch, dass ihre Stunde noch nicht gekommen ist.
Die Befürworter einer Loslösung von London sind immer noch in der Minderheit, wenn auch knapp. Jüngste Umfragen legen nahe, dass inzwischen rund 48 Prozent der schottischen Wähler für die Unabhängigkeit stimmen würden. Das ist viel zu eng, um das Wagnis eines zweiten Referendums einzugehen, denn danach wäre das Thema möglicherweise wirklich erledigt.
Bildungsbürger für Unabhängigkeit Schottlands?
Für die Strategie der SNP ist unter anderen Angus Robertson verantwortlich. Der Vertraute Sturgeons und ehemalige SNP-Fraktionschef in Westminster hat vor allem Brexit-Gegner im Bildungsbürgertum als potenzielle Unterstützer ausgemacht. "Gebildet, vernetzt und ökonomisch erfolgreich", das sei eine der Zielgruppen, die es zu gewinnen gilt, sagt Robertson im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur in Edinburgh. Diese Gruppe stand der Abspaltung bisher eher skeptisch gegenüber. Hier zeige sich bereits ein deutlicher Trend zur SNP und zur Unabhängigkeit. Die Unbeliebtheit Johnsons in Schottland helfe dabei natürlich, so Robertson. Auf der anderen Seite gebe es Brexit-Befürworter, die zwar grundsätzlich im Vereinigten Königreich bleiben wollten, aber sich von London nichts vorschreiben ließen - und allein deshalb ein zweites Referendum unterstützen könnten.
Hört man sich auf den Straßen von Edinburgh um, scheint sich seine These zu bestätigen. Begeisterung für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum ist nicht zu spüren, aber auch eine Abneigung gegen Bevormundung aus London. "Ich finde, Schottland sollte im Vereinigten Königreich bleiben", sagt beispielsweise Steven Williamson, ein 43 Jahre alter Koch. Doch wenn die Mehrheit der Schotten es so wolle, müsse man eine zweite Volksabstimmung zulassen, findet er.
SNP will kein illegales Referendum
Rund 650 Kilometer weiter südlich im feinen Londoner Viertel St. James's sitzt der ehemalige schottische Labour-Politiker Jim Murphy in einem Konferenzraum und spricht mit Journalisten. Er will die Schotten davon überzeugen, nicht ihren eigenen Weg zu gehen. Murphy hält die Forderung nach schottischer Unabhängigkeit für wirtschaftlich noch unvernünftiger als den Austritt Großbritanniens aus der EU. "Die Unabhängigkeit für Schottland ist das, was der Brexit für Großbritannien ist, aber noch viel schlimmer", so Murphy. Der schottische Staatshaushalt müsse massiv aus London subventioniert werden. Fiele das weg, müsste noch stärker gespart werden als ohnehin. Auch die Frage, welche Währung Schottland dann verwenden würde, ist noch lange nicht geklärt.
Für Murphy ist es auch ein Kampf um die Fähigkeit seiner Partei, jemals wieder eine Regierung in London zu stellen. Denn die Stärke der SNP in Schottland ist nicht nur eine Gefahr für Johnson, sondern auch willkommene Schützenhilfe gegen Labour. Ohne die Sitze aus Schottland sei es sehr schwer für die britischen Sozialdemokraten, eine Mehrheit in Westminster zusammenzubekommen, so Murphy. Immerhin war der letzte Labour-Premier, Gordon Brown, ein Schotte, und auch Tony Blair wurde in Schottland geboren. Doch die einst stolze schottische Labour-Partei ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Bei der britischen Parlamentswahl im Dezember konnte Labour nur ein einziges Mandat in dem Landesteil gewinnen.
Der SNP fehlt es trotz ihrer Stärke in Schottland an einem Hebel für ein zweites Referendum. Solange sich Johnson sperrt, sind ihr die Hände gebunden. Auf ein illegales Referendum wie in Katalonien will sich die Partei nicht einlassen. Ihre ganze Hoffnung ruht daher auf der Wahl zum schottischen Regionalparlament im Mai 2021. Die Unabhängigkeit werde "das entscheidende Thema" werden, so Robertson. Sollte die SNP, die derzeit für ihre Minderheitsregierung auf die Unterstützung der Grünen angewiesen ist, die Wahl gewinnen, würde das den Druck auf Johnson erhöhen. Und falls ihn das nicht umstimmen sollte? Umso besser, glaubt Robertson. "Je länger er [Johnson] so weitermacht, desto unhaltbarer wird es."
Quelle: ntv.de, Christoph Meyer, dpa
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