Fritz Felgentreu ist ein Sozialdemokrat, der die Koalition seiner Partei mit CDU und CSU stützt. In seinem linken Berliner Landesverband, der lieber heute als morgen die große Koalition verlassen würde, ist der Verteidigungspolitiker in der Minderheit. In den Bundestag ist er nur dank seines Direktmandats in Neukölln gewählt worden. Sympathien für die Linkspartei ist Felgentreu unverdächtig. Nach der Wahl des FDP-Abgeordneten Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten Thüringens mit Hilfe der dortigen AfD-Fraktion schrieb Felgentreu am Mittwoch auf Twitter: „Am Wahlabend in Thüringen war klar: Die CDU muss sich entscheiden zwischen Zusammenarbeit mit Nationalisten oder mit Postkommunisten. Das hat sie jetzt, und zwar genauso, wie sich die deutschen Konservativen immer entschieden haben. Es schlägt, das braune Herz Deutschlands.“
Felgentreu ist nicht der einzige pragmatisch orientierte Sozialdemokrat, der empört auf das Verhalten der CDU reagierte. Im Gegenteil. Alle in der SPD, die bisher für ein Festhalten an der großen Koalition eintraten, reagierten ähnlich. Lars Klingbeil, der SPD-Generalsekretär, sprach von einem „Tiefpunkt der deutschen Nachkriegsgeschichte, nicht nur für Thüringen, sondern für ganz Deutschland“. Die FDP lasse sich von der AfD, „die mit Höcke einen waschechten Faschisten in den eigenen Reihen hat“, an die Macht wählen, und die CDU spiele „das gefährliche Spiel ohne Skrupel einfach mit“. Dass Union und FDP nur einer Finte der AfD erlegen seien, das glaubt in der Bundes-SPD niemand – entsprechend fielen die Reaktionen aus. „Was in Erfurt passiert ist, war kein Zufall, sondern eine abgekartete Sache“, so Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz. Es stellten sich sehr ernste Fragen an die Spitze der Bundes-CDU, die SPD verlange schnelle Antworten.
Sprachlich gewohnt salopp kommentierte der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel: „Wer glaubt, dass FDP und CDU nichts davon gewusst haben, dass die AfD ihren FDP-Kandidaten zum Ministerpräsidenten in Thüringen wählt, glaubt auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten.“ Und die SPD-Vorsitzende Saskia Esken forderte, den Ausgang der Wahl im Erfurter Landtag zum Thema im Koalitionsausschuss zu machen. Auch sie sprach von einem abgekarteten Spiel und verlangte sogar, die Wahl müsse „korrigiert werden“. Esken nannte auch die aus ihrer Sicht Schuldigen: Verantwortung trügen die Bundesvorsitzenden der FDP und der CDU, Christian Lindner und Annegret Kramp-Karrenbauer. Für einen Moment schien es so, als stürze das Agieren der Union in Erfurt auch die Koalition in Berlin in den Abgrund. Es wäre ein Triumph für die AfD.
Während die Sozialdemokraten tobten, war aus dem Konrad-Adenauer-Haus nach der Wahl Kemmerichs stundenlang nichts zu hören. Zunächst äußerten sich Christdemokraten aus den Ländern, keineswegs übereinstimmend. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer sagte, es sei „kein guter Tag für Thüringen“. Die Wahl Kemmerichs werde das Land weiter spalten. Der Vorsitzende der CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Burkard Dregger, sagte dagegen, es handele sich um eine demokratische Entscheidung, die nicht zu kritisieren sei. Der frühere CDU-Ministerpräsident Bernhard Vogel empfahl seiner Partei, in der neuen Regierung mitzuarbeiten. Bedingung sei, dass die AfD nicht einbezogen werde. Diese Bedingung erfüllte der frisch gewählte Ministerpräsident schon wenig später, als er zusagte, er werde bei der Regierungsbildung nicht einmal mit der AfD sprechen.
Die CDU-Spitze in Berlin brauchte eine Weile, bis eine Sprachregelung gefunden war. Das war wenig erstaunlich. Denn für die Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer und ihren Generalsekretär Paul Ziemiak war die Thüringen-Wahl im Oktober vom Wahlsonntag an eine enorme Herausforderung. Kaum hatte Spitzenkandidat Mike Mohring frühzeitig die Bereitschaft gezeigt, mit dem Linken Bodo Ramelow zu sprechen, schmetterte Ziemiak ihm von der Spree aus ein Nein entgegen. Eine Zusammenarbeit mit der Linken sei ebenso ausgeschlossen wie mit der AfD, rammte Ziemiak einen Pfahl in den Berliner Boden, an dem er und seine Vorsitzende sich festzurrten wie Odysseus am Mast. Seit der Wahl versuchen die beiden CDU-Spitzen, den enttäuschten Konservativen und Wirtschaftspolitikern in der Partei deutlich zu machen, dass man sie nicht vergessen habe und die CDU zumindest nicht weiter von der Mitte nach links verschoben werde, vorsichtig sogar in die andere Richtung.
Dennoch machte der Vorsitzende der Jungen Union, Tilman Kuban, schon am Tag nach der Wahl eine Führungsfrage in der CDU aus. Kramp-Karrenbauer ging in die Offensive und forderte ihre Kritiker heraus, sie möchten auf dem bevorstehenden Parteitag im Oktober vorigen Jahres doch die Führungsfrage offen stellen. Jede noch so vorsichtige Annäherung Mohrings an Ramelow wurde von Berlin aus abgeschmettert. Doch es ging der CDU-Führung nicht nur um die Abgrenzung von der Linken. Vielmehr wäre es für sie schwer, eine Annäherung an die Linkspartei zu akzeptieren, aber jenen Thüringer Parteifreunden, die einen Blick nach rechts werfen wollen, eine Zusammenarbeit mit der AfD zu verwehren.
Gegen 16.30 Uhr hatte dann auch die Unionsführung ihre Sprache wiedergefunden. Vermutlich nach gründlicher Abstimmung und vor allem unter Berücksichtigung der wüsten Kommentare aus der SPD. Sowohl der CSU-Vorsitzende Markus Söder als auch der CDU-Generalsekretär fanden Worte schärfster Kritik zur Wahl Kemmerichs. Die FDP habe „mit dem Feuer gespielt“ und das Land politisch in Brand gesetzt, sagte Ziemiak. Die Wahl spalte das Land. Umso schlimmer sei es, dass Abgeordnete der CDU Thüringen mit ihrem Stimmverhalten die Wahl eines Ministerpräsidenten „durch Nazis wie Höcke und die AfD-Fraktion billigend in Kauf genommen“ hätten. Söder und Ziemiak machten rasch klar, was sie als den einzig gangbaren Ausweg sehen: eine baldige Wahl in Thüringen. Wenig später meldete sich Kramp-Karrenbauer aus Straßburg mit einer Ansage, wie man sie selten von einer Bundesvorsitzenden an die Parteifreunde in einem Landesverband hört. Die CDU-Fraktion im Thüringer Landtag habe „ausdrücklich gegen die Empfehlungen, Forderungen und Bitten der Bundespartei“ gehandelt. Auch die CDU-Chefin brachte eine vorzeitige Wahl ins Spiel.
Ausgerechnet Björn Höcke
Da herrschte Einigkeit mit dem FDP-Bundesvorsitzenden Christian Lindner. So wenig Gratulation für einen Parteifreund, der gerade zum Ministerpräsidenten gewählt worden war, hatte es noch nie in Berlin gegeben. Nach einer klaren Absage an jede Zusammenarbeit mit der AfD gestand Lindner eben noch zu, dass es „gemeinsame Projekte der Parteien der Mitte“ geben könne. Sollten sich CDU, SPD und Grüne jedoch einer Zusammenarbeit mit der neuen Regierung „fundamental verweigern“, so „wären baldige Neuwahlen zu erwarten und aus meiner Sicht auch nötig“. Mehr noch als in der CDU gab es in der FDP unterschiedliche Kommentare. Lindners Stellvertreter im Parteivorsitz Wolfgang Kubicki hatte von einem „großartigen Erfolg“ Kemmerichs gesprochen, der rheinland-pfälzische FDP-Vorsitzende Volker Wissing bescheinigte dem neuen Ministerpräsidenten, einen Beitrag dazu zu leisten, Thüringen überhaupt regierbar zu halten.
Die AfD in Berlin frohlockte. „Die bürgerlichen Kräfte haben sich durchgesetzt“, sagte Fraktionschef Alexander Gauland. Er hatte schon am Wahlabend im Oktober von einer „bürgerlichen Mehrheit aus CDU, FDP und AfD“ gesprochen – nun sah er sich bestätigt. Das Ergebnis in Erfurt zeige, dass das Ausgrenzen der AfD nicht funktioniere, sagte Gauland. Von Erfurt gehe das Signal aus, „dass man nie eine demokratische Partei aus dem Diskurs ausschließen darf“. In der AfD-Bundestagsfraktion heißt es, Gauland und der neue Parteivorsitzende Tino Chrupalla seien in das Vorgehen der Thüringer AfD eng eingebunden gewesen. Seit die FDP ihren Kandidaten für den dritten Wahlgang aufgestellt habe, sei es klar gewesen, wie die AfD sich dann verhalten werde. Das hätten auch die Thüringer CDU und FDP gewusst. Die AfD sei daher vor der Wahl sehr zuversichtlich gewesen, dass es genauso kommen werde, wie es am Mittwoch geschah. Die Entscheidung werde nun eine Diskussion darüber befeuern, ob eine Zusammenarbeit mit der AfD auf Dauer ausgeschlossen werden könne. Zwar werde es auch in der AfD nicht jeden freuen, dass ausgerechnet Björn Höcke diesen Erfolg erreichen konnte, der in der AfD umstritten ist.
Offene Kritik am Vorgehen der Thüringer AfD-Fraktion gab es in der Partei allerdings am Mittwoch nicht. Im Gegenteil: Selbst der Berliner AfD-Fraktionsvorsitzende Georg Pazderski, ein Gegner Höckes, sprach von einer „bürgerlichen Wende“ in Thüringen. Endlich werde deutlich, dass es eine Mehrheit „gegen die links-rot-grüne Vorherrschaft nicht nur auf dem Papier gibt“. Pazderski gratulierte dem Höcke-Lager der AfD geradezu emphatisch mit den Worten: „Deutschland ist noch nicht verloren.“
faz.net
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