Das Phänomen Rot-Weiss Essen

  17 Februar 2020    Gelesen: 807
  Das Phänomen Rot-Weiss Essen

Seit fast einem Jahrzehnt spielt Rot-Weiss Essen Essen viertklassig. Dennoch hat der Klub so viele Zuschauer wie kein anderer Fußball-Regionalligist, mehr als die meisten Drittligisten. Die Strahlkraft ist enorm, erklären kann man das nicht. Jetzt soll es endlich nach oben gehen.

Hier hat also Edson Arantes do Nascimento gekickt? Auf einem Parkplatz im Essener Norden? Der große Pelé? Wer an diesem trüben Februarnachmittag zwischen den Autos steht und nach den Spuren der Vergangenheit sucht, mag das kaum glauben. Doch genau hier, an der Hafenstraße im Stadtteil Bergeborbeck, stand einst das Georg-Melches-Stadion. Das GMS, benannt nach dem Mann, der 1907 mit seinem Vater, Betriebsführer der Zeche Emil-Emscher, den Verein als SV Vogelheim gegründet hatte. Heute erinnert nur ein einzelner Flutlichtmast an die alten Zeiten, den haben sie stehen lassen. Die Rot-Weissen spielen seit August 2012 in einem neuen, modernen Stadion mit 20.600 Plätzen, direkt nebenan. Willkommen in der Fußball-Regionalliga West.

Und, wie läuft's? Marcus Uhlig ist Vorstandschef von Rot-Weiss Essen. Sein Job ist es, den Verein in eine bessere Zukunft und am besten in die dritte Liga zu führen, dorthin, wo dann auch offiziell Profifußball gespielt wird. Dafür muss er stets optimistisch sein, auch wenn das manchmal schwerfällt. Sein Verein hat gerade das Spitzenspiel gegen den SV Rödinghausen mit 0:2 verloren. "Natürlich wollen wir hoch, daraus machen wir auch gar kein Hehl. Wenn das in dieser Saison klappt, wäre das super. Wenn nicht, werden wir im Sommer versuchen, mit einer Jetzt-erst-recht-Stimmung das in der kommenden Saison anzugehen."

Was er da noch nicht weiß: Mittlerweile hat der souveräne Tabellenführer aus Rödinghausen verkündet, im Fall der Meisterschaft auf den Aufstieg zu verzichten. Das Stadion ist viel zu klein, ein Ausbau sei dann doch zu teuer. Im Jahr 1970 gegründet, spielte der Klub bis vor zehn Jahren noch in der Kreisliga A. Das Wiehenstadion im Ortsteil Schwenningdorf im ostwestfälischen Kreis Herford fasst 2489 Zuschauer. Der DFB fordert für Drittligisten aber mindestens 10.000 Plätze. Dazu eine Rasenheizung, ein Fernsehstudio oder zumindest einen Stellplatz für die Übertragungswagen von 400 Quadratmetern. Und, und, und. Ein Wahnsinn, wie der Verband die Regionalligisten kleinhält. Oder besser: Sie ins Risiko zwingt, größer zu werden als sie sein wollen. Aber in diesem Fall ist das gut für die Essener.

"Das ist unser Auftrag, unser Antrieb"

Die haben das Problem mit dem Stadion nicht und sind als Tabellenvierter wieder voll dabei, wenn der Spitzenreiter wirklich nicht aufsteigt. Uhlig sagte dazu am Donnerstagabend: "Für uns ändert sich nichts, wir müssen und werden auf uns schauen und unsere Hausaufgaben machen. Ich hoffe nur, dass durch diese Entscheidung der Wettbewerb nicht negativ beeinflusst wird. Wir haben als einzige Spitzenmannschaft bereits zweimal gegen den SVR gespielt." Nach einem spielfreien Wochenende steht nun wieder ein Topspiel an.

An diesem Sonntag, ab 14 Uhr, kommt Rot-Weiß Oberhausen an die Hafenstraße, der Tabellendritte. Essens Trainer heißt seit dem Sommer Christian Titz, einer, der mal den Hamburger SV in der Bundesliga trainiert hat und von der großen Fußballwelt erzählen kann. Als Investor unterstützt seit März vergangenen Jahres der Unternehmer Sascha Peljhan den Klub, in Essen geboren, RWE-Fan, Dauerkartenbesitzer und Gründer des Modelabels Naketano. Seit dem Sommer sitzt er im Aufsichtsrat. "Wir haben ganz, ganz viel im Großen und Kleinen verändert", sagt Uhlig. "Aber das ist im Fußball wie überall, das geht nicht über Nacht."

Dass es in dieser Runde um den Aufstieg geht, merkt man auch daran, dass RWE vor dem Saisonstart bereits 4.200 Dauerkarten verkauft hatte. In der Winterpause kamen 500 dazu. Gegen den SV Rödinghausen sind 12.113 Menschen da. "Für solche Spiele wird man Fußballer ", hatte Enrico Maaßen gesagt, der Trainer der Gäste. Bei den Heimspielen der Rödinghauser sind im Schnitt 1119 Zuschauer, in der ganzen Saison hatte der Spitzenreiter insgesamt ungefähr so viele Besucher wie RWE pro Spiel. Der Schnitt liegt bei 10.940, eine Klasse für sich. In Deutschland spielen 90 Regionalligisten in fünf Staffeln. Nirgends gibt es einen auch nur annähernd so hohen Zuspruch. Im Westen kommt Alemannia Aachen auf 5182 Zuschauer im Schnitt, Kickers Offenbach im Südwesten auf 5784. Zweitbeliebtester Regionalligist bundesweit ist der FC Energie Cottbus mit 6395 Besuchern pro Spiel.

RWE ist ein Phänomen.1997 haben die Essener zuletzt in der zweiten Liga gespielt. Der Tiefpunkt war erreicht, als der Klub 2010 in die NRW-Liga abstieg und nur noch fünftklassig war. Seit 2011 spielt Essen immerhin wieder in der Regionalliga. Nun, in der neunten viertklassigen Saison hintereinander, soll sich endlich etwas bewegen. "Wir sind einer der Vereine, wie es sie in Deutschland nicht mehr viele gibt", sagt Vorstandschef Uhlig. "Der TSV 1860 München, Eintracht Braunschweig vielleicht, der 1. FC Kaiserlautern sicherlich, wo so eine ungeheure breite Basis da ist. Viele Leute warten einfach darauf, wieder so ein Initial zu bekommen. Diese Lust auf Erfolg, wieder in die dritte Liga zu kommen, ist so unglaublich groß spürbar. Das ist unser Auftrag, unser Antrieb, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass wir das wieder schaffen."

"Für immer Georg-Melches-Stadion"

Die Fans leben durchaus im Hier und Jetzt, sie wissen, dass man sich ein Fußballspiel in der Regionalliga nicht wegen des Fußballs anschaut. Auch ein, zwei oder gar drei Klassen höher ist der Alltag eine zähe Sache, manchmal langweilig. Und kalt ist es, jetzt im Winter. Wer regelmäßig Spiele im Stadion sieht, der weiß, dass die Realität da draußen oft wenig zu tun hat mit den rasanten Zusammenschnitten im Fernsehen und dem, was Redakteure bisweilen ins Internet und in die Zeitungen schreiben. Das Wenigste ist "Wahnsinn" oder "irre" oder ein "Coup". Der Fußball lebt oft davon, dass lange nichts passiert, bevor plötzlich doch etwas geschieht. Oder eben auch nicht. Dafür bleiben dann die wirklich besonderen Spiele lange in Erinnerung. Jeder Fan hütet diese Momente, auch in der Westkurve in Essen. Wobei die meisten zu jung sein dürften, um sich an die großen Erfolge zu erinnern.

Die Unterstützung in der neuen Westkurve aber ist erstklassig, zumindest bis Rödinghausen in der 68. Minute das 2:0 schießt und das Spiel entschieden ist. Da der Verein just an diesem 1. Februar Geburtstag feiert, hatten sie ein Plakat aufgehängt, eine Hommage an ihren RWE: "Wir halten Dir die Treue, egal wohin es geht. Auch die nächsten 113 Jahre." Dass sie vor dem Spiel, wie zum Beispiel in Bochum und Gelsenkirchen auch, das Steigerlied singen, kann man als Folklore abtun. Aber kaum ein Verein im Ruhrgebiet ist in Aufstieg und Fall so sehr mit dem Bergbau verbunden wie Rot-Weiss Essen. Oder besser: war. Die Vergangenheit aber ist allgegenwärtig. "Schützenswertes Kulturgut seit 1907" heißt der Slogan des Klubs. Und wer sich auf dem Weg ins Stadion Essen macht, der kommt an einer alten Eisenbahnbrücke vorbei, an der hängt ein Plakat, auf dem steht: "Für immer Georg-Melches-Stadion." Fußballfreunden, die ab Mitte der 90er Jahre dort waren, ist es vor allem in Erinnerung geblieben, weil es nach dem Abriss der legendären, aber baufälligen alten Westkurve hinter einem der Tore nur noch drei Tribünen hatte.

"Wir müssen trotzdem aufpassen"

Als aber 1957 die neue Haupttribüne eingeweiht wurde, war das Stadion das modernste weit und breit. Ein wenig trauern die Fans dem Mythos Hafenstraße, dem "deutschen Highbury", immer noch nach. Ein Stadion ist im besseren Fall mehr als ein Bauwerk, ein Stadion ist ein Gefühl. Aber wem nützt Tradition, wenn sie einer Ruine gleicht? Denn dass der RWE eine große Nummer auf Augenhöhe mit dem FC Schalke 04 und Borussia Dortmund war, liegt lange zurück: Pokalsieger 1953, Deutscher Meister 1955.

Uhlig spricht vor einer "unglaublichen Wucht, die dieser Verein entfacht hatte". Und die bis heute wirkt. Er sag aber auch: "Wir müssen trotzdem aufpassen. Wenn wir uns nicht weiterentwickeln, dann werden wir sicherlich keine neuen Fans hinzugewinnen." Helmut Rahn, der Boss, der Weltmeister und Siegtorschütze von 1954, dessen Statue heute vor dem neuen Stadion steht, Otto Rehhagel, Willi Lippens ("Ich danke Sie", der Spruch hängt als Plakat im Stadion), Horst Hrubesch, Frank Mill und Jürgen Wegmann haben hier gespielt. Und Mesut Özil, zwischen 2000 und 2005 bis zur B-Jugend, weil die Schalker ihn als "zu schmächtig" abgelehnt hatten. Als er im Sommer 2010 für 15 Millionen Euro vom SV Werder Bremen zu Real Madrid wechselte, bekam RWE als Ausbildungsverein 225.000 Euro. Die retteten den Klub vor der Insolvenz. Als Özil 2014 für 50 Millionen Euro zum FC Arsenal weiterzog, gab es gar 640.000 Euro. Für den Aufstieg hat das bisher nicht gereicht.

Pelé war übrigens wirklich an der Hafenstraße, am 2. Juni 1963. Da, wo jetzt der Parkplatz ist. Der FC Schalke 04 hatte den FC Santos aus Brasilien, die berühmteste Mannschaft der Welt, eingeladen und das Freundschaftsspiel ins moderne Georg-Melches-Stadion verlegt, weil es dort mehr teure Sitzplätze gab als in der Glückauf-Kampfbahn. Doch es kamen nur 15.000 Zuschauer, die Schalker sind in Essen nicht sehr beliebt. Pelé aber, einer der besten Fußballer der Geschichte, ist inzwischen ein Rot-Weisser. Seit November 2005 ist der Ehrenmitglied des Klubs, der die Vergangenheit pflegt und auf eine bessere Zukunft hofft.

Quelle: ntv.de


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