Berliner Zulieferer baut jetzt Gesichtsschilde

  05 April 2020    Gelesen: 1206
  Berliner Zulieferer baut jetzt Gesichtsschilde

Weil Schutzmasken fehlen, behilft sich medizinisches Personal inzwischen mit Konstruktionen aus Folien und Klebebändern. Verzweifelt bittet eine Ärztin in Berlin um Hilfe. Ein Autozulieferer reagiert. Wenige Tage später hat sie ein Visier aus dem 3-D-Drucker. Ein Geschäftsmodell mit Zukunft?

In der gläsernen Tüftelwerkstatt in der Werkshalle der Firma Vielstetter im Berliner Süden steht ein unscheinbarer 3-D-Drucker. Monoton summt eine Düse an einem Roboterarm und zieht langsam und bedächtig hellblaue Streifen in einem Halbkreis, immer hin und her. Das Gerät ist nicht größer als zwei aufeinander gestapelte Getränkekisten. Doch die Wirkung, die es womöglich entfalten könnte, ist groß.

Bis es so weit ist, ist jedoch Geduld gefragt. Die hat die mittelständische Firma. Der Autozulieferer mit seinen knapp 50 Mitarbeitern will helfen, wenn auch nur im kleinen Stil. Die Idee liegt in der Corona-Krise auf der Hand: Zusätzlich zu Getriebeteilen sollen nun Gesichtsmasken produziert werden.

In normalen Zeiten werden hier Prototypen für Lkw-Getriebe gedruckt, um sie zu testen, bevor sie in Metall angefertigt werden. Bevor nun Masken in Serie produziert werden, wird es dauern. Das Gebilde im 3-D-Drucker, das wie ein Gemälde aus verflüssigter Zahnpasta aussieht, ist das Ausgangsstadium eines der Prototypen für die Gesichtsschilde. Genau genommen ist es der Rahmen, der die Folie vor dem Gesicht hält. Knapp acht Stunden braucht das Gerät im hauseigenen Mikro-Labor derzeit, bis die Haltevorrichtung fertig ist.

"Gut für den Betrieb, gut für die Solidarität"

Einer steht trotzdem wie gebannt daneben: "Das Gerät schafft vier Masken pro Tag", sagt Olaf Jelken stolz. Seine Augen leuchten beim Anblick dieses Neuanfangs, als sei er ein kleines Wunder. Jelken ist seit zehn Jahren Geschäftsführer des Mariendorfer Traditionsunternehmens. Die Welt verändern kann er nicht, das weiß er. Dass der Prozess quälend langsam ist, irritiert ihn aber offenbar nicht. Er sieht es sportlich: "Kurze Dienstwege, schnelle Umsetzung. So ist das bei uns", sagt er beim Gang durch die Werkshalle. "Hier ist schnelle Hilfe gefragt. Das ist gut für den Betrieb und gut für die Solidarität. Es ist das, was der Gesellschaft in diesem Augenblick hoffentlich nützt."

Die Firma liefert hauptsächlich Teile für den Nutzfahrzeugbereich. Zu den großen Kunden zählen Daimler, Bosch und ZF Friedrichshafen. Für einige Teile, die Vielmetter baut, gibt es zurzeit weder andere Lieferanten, noch Alternativen. "Das hilft uns in schwierigen Zeiten", sagt der 51-Jährige. "Wenn wir morgen nicht liefern, dann steht ein Band für mehrere Wochen oder gar Monate still."

"Patienten haben bessere Schutzausrüstung als wir"

Die Idee mit den Gesichtsschilden hat die Frau eines Kollegen an Jelken herangetragen. Antje Rätzer ist Allgemeinmedizinerin und arbeitet in einem kleinen medizinischen Versorgungszentrum in Lichterfelde, in dem auch Corona-Patienten behandelt werden. "Ich kann meine Patienten aus Gründen des Eigenschutzes und zum Schutze der Patienten selbst nicht persönlich behandeln, nur noch telefonisch versorgen, weil ich keine Schutzausrüstung mehr habe", erzählt sie völlig entgeistert. Damit sei die ambulante Versorgung durch Hausärzte praktisch kaum noch möglich, ohne sich und das Team gesundheitlich zu gefährden. Bereits seit Monaten sei der Markt komplett leergekauft. Die einzige Alternative: dubiose Quellen mit inakzeptablen Preisen. "Wann und wo ich Nachschub bekomme, wird aktuell nicht klar kommuniziert."

Verzweifelte Ärzte und Pfleger wie Rätzer behelfen sich inzwischen mit Folien und Klebeband aus dem Baumarkt. "Es ist frustrierend!", klagt Rätzer. "Das dringend benötigte Material ist am falschen Fleck. Die Patienten, die kommen, haben zum Teil bessere Schutzausrüstung hinsichtlich des Mundschutzes als wir." In ihrer Not wendet sie sich eines Tages nach Feierabend an ihren Mann. "Ich dachte mir, dass der 3-D-Drucker im Werk doch sicherlich auch einen Gesichtsschutz für mich bauen könnte." Als der Hilferuf am nächsten Tag beim Chef ankommt, ist der sofort dabei.

Eine Perspektive für die Zeit nach Corona

Jelken kennt sich mit schwierigen Zeiten aus. Das Projekt mit dem Gesichtsschutz ist in zweifacher Hinsicht aus der Not heraus geboren. Eigentlich ist die Firma gut aufgestellt. Die Flaute im Automobilsektor hat trotzdem tiefe Spuren im Unternehmen hinterlassen. Im Moment befindet es sich in vorläufiger Insolvenz. Der Nutzfahrzeugmarkt in Asien ist eingebrochen. In China und Indien, die in den vergangenen Jahren Vielmetters Wachstumsmotoren waren, hat sich das Geschäft halbiert.

Auch wenn das Unternehmen im robusteren Nutzfahrzeugmarkt unterwegs ist, stehen dem Mittelständler vermutlich noch schwierigere Zeiten bevor. "Im Mai oder Juni wird Vielmetter eine Delle zu spüren bekommen", prognostiziert Insolvenzverwalter Stefan Ludwig von Schultze & Braun. "Die europäischen Märkte inklusive Deutschland fahren gerade alle Produktionsstandorte herunter."

Wie viele will Vielmetter bald staatlichen Hilfemaßnahmen beantragen, um durch die Corona-Krise zu kommen. Jelken und Ludwig hoffen zumindest auf ein kleines Zusatzgeschäft durch den 3-D-Druck von Visieren - gegebenenfalls könnten es auch noch andere Produkte werden. "Die Geschäftsidee wird nicht den gesamten Umsatzrückgang kompensieren können", sagt Ludwig, "aber es werden sich sicherlich neue Geschäftsbeziehungen, auch für die Zeit nach der Corona-Krise für das Unternehmen ergeben".

"Ein Tropfen auf den heißen Stein"

Jelken schwelgt in Optimismus, auch wenn die Hürden hoch sind. Aus juristischen Gründen dürfen Masken dieser Art nicht als Medizinprodukte vertrieben werden. Zweifel am Absatz seiner Gesichtsschilde wischt er erstmal beiseite. Diese und weitere regulatorische Voraussetzungen klärt Jelken derzeit mit den Behörden ab. Seine Hoffnungen ruhen zurzeit vor allem auf den Berliner Plänen für ein improvisiertes Krankenhaus auf dem Messegelände. Bis zu 1000 zusätzliche Betten für Corona-Patienten sind geplant. Ärzten und Pflegern dürften die Gesichtsschilde, die gegebenenfalls auch zusätzlich zu medizinischer Schutzkleidung getragen werden können, willkommen sein.

"Wir sind hochmotiviert", sagt Jelken. Er will die Produktion jetzt schnell hochfahren. Denn andere Firmen sind bereits mit derselben Idee am Start. Weil das Geld für große Investitionen fehlt, denkt er über Kooperationen nach. "Wir können uns mit anderen Unternehmen, die über 3-D-Drucker verfügen, zusammenzutun", sagt er. Als Ärztin ist Rätzer für das Engagement von Unternehmen wie Vielstetter dankbar. "Das muss jetzt schnell und unbürokratisch gehen." Langatmige Zertifizierungen sollten abgekürzt werden. Und: "Die Produktion der kleinen Unternehmen sollte jetzt zentral koordiniert werden", wünscht sie sich.

Inzwischen kann sie den ersten Prototyp der Gesichtsmaske aus dem Vielstetter-Drucker bereits in ihrer Praxis testen. "Damit fühle ich mich etwas besser geschützt", sagt Rätzer. "Zudem hoffe ich mit diesem Gesichtsschild noch Ressourcen sparender arbeiten zu können. Hätte ich auch noch FFP-2-Masken, könnte ich mich meinen Patienten wieder nähern." Das Gesichtsschild bleibt damit vorerst "ein Tropfen auf den heißen Stein".

Quelle: ntv.de


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