„Junge Muslime etablieren sich als Elite in diesem Land. Das macht einigen Angst“

  05 Oktober 2015    Gelesen: 686
„Junge Muslime etablieren sich als Elite in diesem Land. Das macht einigen Angst“
So Udo, willst Du Dich mal vorstellen?

Klar. Ich bin vom Studium her Orientalist. Das bedeutet, dass man vor einem halben Jahrhundert Arabisch, klassisches Arabisch und statt Türkisch Osmanisch lernen musste. Ich habe aus einem arabischen Volksroman aus dem elften Jahrhundert promoviert. Bin dann aber sozusagen in die Gegenwart eingestiegen, in der ich in der Stiftung für Wissenschaft und Politik tätig geworden bin. Der Vorteil, den ich heute davon habe, ist, dass ich ein Fach studiert habe, das praktisch historisch war wie Latein beispielsweise und damit in der Lage bin, die Entwicklungen in der Region beziehungsweise in der Türkei und im arabischen Raum auch aus der kulturellen Dimension zu sehen.

Die meisten Leute, die sich hier in Deutschland mit Politik beschäftigen, kennen Dich im Grunde, aber ich möchte eigentlich nicht unbedingt über Politik reden. Du bist ein Mann mit viel Lebenserfahrung und Wissen. Wenn Du jetzt auf Dein bisheriges Leben zurückblickst, kannst Du mir sagen, welcher Weg beziehungsweise welche Philosophie für einen jungen Menschen wie mich oder den Millionen anderen jungen Menschen der beziehungsweise die richtige ist?

Ich denke, die Philosophie des Lebens ist es, keine Philosophie zu haben, sondern die Welt zu nehmen, wie sie sich darstellt. Das, was mir persönlich sehr gefällt und das ist etwas, was ich in meinen beruflichen Tätigkeiten mag und etwas, was im Vordergrund meiner Interessen steht, ist die Vielfalt. Die Vielfalt der Welt, die Vielfalt der Völker, die Vielfalt der Kulturen, die Vielfalt der Sprachen, die Vielfalt der Menschen. Und es ist quasi meine Lebensphilosophie, diese Vielfalt zu verstehen und alles dazu beizutragen, dass diese Vielfalt von den Menschen gelebt werden kann.

Du engagierst Dich schon seit Jahrzehnten für die Verständigung, wenn ich richtig recherchiert habe. Dann macht Dich das also auch zu einem Friedensaktivisten?

Nun ja, ich bin eigentlich Wissenschaftler, aber Du hast schon Recht, ich habe viele Dialogveranstaltungen gemacht. Immer im Bereich mit Menschen, mit denen ich zu tun hatte. Also mit Menschen aus der islamischen Welt beziehungsweise dem Nahen und Mittleren Osten. In den siebziger Jahren habe ich etwa mit den Arabern den arabisch-europäischen Dialog geführt.

Gab es irgendein Ereignis, das aus der Menge hervorsticht und besonders interessant war?

Besonders interessant war der Dialog in den achtziger und frühen neunziger Jahren. Der Dialog mit Iran und den Mullahs. Ich versuchte zu ermitteln, ob wir überhaupt eine gemeinsame Wertegrundlage hatten. Europa auf der einen Seite und die Islamische Republik auf der anderen.

Zu welchem Ergebnis bist Du gekommen?

Damals habe ich gemerkt, wie Menschen gewissermaßen aus der Ecke geholt werden können. Wie Menschen unterschiedlicher Weltanschauung am Ende doch nicht nur zusammensitzen, sondern auch zusammenleben können. Der Höhepunkt damals mit den Iranern war die Einweihung des Dialogs der Kulturen in Weimar. Da nahmen Chatami, Johannes Rau, Roman Herzog und andere teil. Also das war wirklich etwas, das mir bis in die Gegenwart am Herzen gelegen hat.

Es lohnt sich also immer, sich für die Verständigung einzusetzen?

Absolut! Es war für mich sehr schön, neben der Wissenschaft tatsächlich Menschen aufzusuchen und auch das kulturelle und menschliche Nebeneinander zu organisieren und zu sehen.

Wovor würdest Du die Menschheit am meisten warnen?

Wenn ich die Möglichkeit hätte, den Menschen ein paar wichtige Sätze zu sagen, dann würde ich ihnen wahrscheinlich raten, dass sie ihre Generation so gestalten, dass diese Welt nicht überbevölkert wird. Ich glaube, dass die Bevölkerungsexplosion eine ganz große Gefahr ist. Das ist nämlich etwas, was gemeinsame Gefährdung hervorruft. Sie schafft Konflikte in Bezug auf Ressourcen, Wettbewerb, Klimaproblematik. Ich glaube tatsächlich, dass wir hier in dieser Welt das Maximum erreicht haben, dass das friedfertig zu verdauen ist. Das ist meine Botschaft. Sie ist ganz simpel, aber sie ist die einzige Voraussetzung, damit wir eine Chance haben, zusammenzuleben.

Auch Helmut Schmidt sagt, dass die Bevölkerungszahl für uns in naher Zukunft zu einem Problem werden könnte.

Sieh mal, ein Land wie Ägypten hatte Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eine Bevölkerungszahl von 4,5 Millionen Menschen. Heute sind es 80 Millionen Menschen und schau mal welche Probleme allein das Land hat. Ich glaube das ist ein ganz großes Problem. Und bis an die Wurzeln gesellschaftlicher Konflikte in den Ländern selber, aber auch internationale Konflikte wie Klimaproblematik oder Migrationsdruck nehmen immer stärker zu.

Werden wir das hier in Deutschland auch erleben?

Das werden wir hier in Deutschland auch noch erleben. Eine Welt, die stark bevölkert ist und eine Explosion erlebt hat, die auf der anderen Seite aber auch stark unterentwickelt ist.

Also meinst Du, es ist höchst ungewiss, in solch einer Zukunft Kinder auf die Welt zu setzen?

Nein, das glaube eigentlich ich nicht. Meine Botschaft ist, rational Kinder zu machen. In dem Maße, in dem tatsächlich die Umwelt und die Ressourcen das verkraften können. Ich selber habe vier Kinder. Es gehört ja eigentlich zu den erfreulichen Tätigkeiten (lacht). Es gehört zum Menschen und zum Lebewesen überhaupt dazu, sich fortzupflanzen. Aber eben nicht unkontrolliert, sondern bis zu einem gewissen Maße kontrolliert.

Also Familie ist schon wichtig?

Familie ist schon wichtig, auch wenn ich wirklich kein guter Familienvater bin. Ich bin zugegebenermaßen kein Familienmensch. Ich glaube trotzdem, dass eine Familie einen Rahmen gibt, sich zu verwirklichen und die Möglichkeit gibt, sich gesellschaftlich zu verhalten. Jemand der keine Familie hat, hat wirklich ein Problem, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden. Familie ist für mich die Vorbedingung für ein gesellschaftliches und produktives Verhalten.

Nun beschäftigst Du Dich ja seit langem unter anderem mit der Islamischen Welt beziehungsweise dem Nahen und Mittleren Osten. In dieser Region herrscht seit Jahrzehnten Krieg. Man sieht sehr viel Schmerz und Tod. Ich kann mir auch gut vorstellen und ich weiß, dass viele Menschen mit diesem Leid nicht besonders gut umgehen können. Wie ist das bei Dir, gibt es bei Dir nach all den Jahren manchmal Momente der Depression oder Hoffnungslosigkeit im Alter?

Also das ist für einen jungen Menschen eine sehr gute Frage. Also so etwas wie ein Burnout kenne ich nicht, aber ja, man wird nach all den Jahren zynisch. Davor muss man sich hüten. Dass man zynisch wird und das man alles schon gesehen hat, das ohnehin alles verkehrt ist, und das die Menschen falsch handeln, weil wir tatsächlich von einer Krise in die andere geschlittert sind und es immer schlimmer wird und so weiter.

Liegt es an den Menschen?

Die Verhaltensweisen ähneln einander und die Menschen scheinen nicht zu lernen. Ich unterstelle beispielsweise dem israelisch-arabischen Konflikt, überall, wo mir das eigentlich gesagt wurde, und jeder weiß eigentlich, was angesagt ist: nämlich ein Nebeneinander der beiden Völker. Es ist dumm. Es ist einfach nicht möglich. Und wenn man das über Jahrzehnte erlebt hat, dann wird man schnell ironisch, noch besser zynisch. Aber der Impuls kommt halt aus der Liebe zum Leben, aus der Liebe zu den Menschen, den Kulturen. Deswegen werde ich auch niemals einen Burnout bekommen. Und mein Zynismus wird mich niemals dahin bringen können, dass ich dieser Welt und diesen Menschen den Rücken kehre.

Gibt es Menschen, die Du als Vorbild siehst, für Dich oder die ganze Menschheit?

Wenn du Menschen meinst, die noch zeitnah sind und nicht irgendwann in der Geschichte gelebt haben, dann würde ich wahrscheinlich sagen, dass Nelson Mandela wirklich ein bedeutender Mensch war. Ein Mensch, der für die Rechte der Menschen gelebt hat, viel Unrecht erfahren und Repression erlitten hat. Aber das hat ihn nicht davon abgehalten, seinen Wunsch weiterzuleben und am Ende die Menschen, die tatsächlich Schuld waren an der Misere, wirklich wieder gemeinsam einzubinden in eine neue Ordnung. Das war wirklich eine großartige Leistung.

Wenn Du jetzt zurückblickst, gibt es einen Punkt, an dem Du sagst, das hätte ich gerne noch gemacht? Wie ist Dein Leben im Großen und Ganzen verlaufen? Ist es so verlaufen, wie Du es Dir vorgestellt hast?

Im Großen und Ganzen ist mein Leben wirklich sehr gut verlaufen. Ich habe wirklich alles, was ich machen wollte, auch erreicht und erzielen können. Zumindest ein Ergebnis vorlegen können. Darüber kann man jetzt lange streiten, aber wenn Du mich fragst, ob ich das, was ich mache, nochmal genauso machen würde, ja ich würde es nochmal machen wollen und zwar von Anfang an. Es war wirklich sehr schön und interessant. Das Leben eines Wissenschaftlers halt (lacht).

Du hattest etwas von einer Geschichte erwähnt, bevor wir hier ins Restaurant gegangen sind. Die hörte sich sehr interessant an.

Es kommt in den nächsten Wochen eine Geschichte der arabischen Welt im zwanzigsten Jahrhundert heraus. Das Ende des zwanzigsten Jahrhunderts ist der Beginn der arabischen Revolte. Die Menschen aus der arabischen Welt haben ein ganzes Jahrhundert auf der Suche gelebt. Und diese Suche der Araber in der Welt, in der internationalen Ordnung, nach dem Zusammenbruch des Osmanisches Reiches, zu dem man vierhundert Jahre gehört hat, werde ich darstellen.

Da war doch noch etwas.

Das nächste wird Iran sein. Ein Land mit einer außerordentlichen Faszination und einem gewaltigen kulturellen Hintergrund, das auch im täglichen Leben und in der Politik immer wieder reflektiert wird.

Wie sieht es derzeit im Nahen und Mittleren Osten aus?

Ich werde mich auch demnächst wieder mit dem Nahen und Mittleren Osten deutlich mehr beschäftigen, damit aus diesem großen bestehenden Chaos in der Islamischen Welt wieder doch etwas wie eine Ordnung entsteht. Das sieht im Augenblick sehr schwierig aus. Aber ich bin optimistisch!

Was braucht man dafür?

Ich bin weltweit sehr gut vernetzt und habe eine Vielzahl von Menschen, die ich sehr gute kenne und liebe im Nahen Osten, in der Türkei, im Irak und vielen anderen Ländern. Das zeigt meine Spiegelgröße in gewisser Weise. Mit diesen Leuten beziehungsweise Faktoren kann ich arbeiten. In dieser Wechselwirkung fühle ich mich auch wirklich sehr wohl und kann meine Projekte verwirklichen. Und ich glaube, das ist wichtig und das braucht man.

Ich sehe, dass der Fremdenhass in Deutschland zunimmt, wie siehst Du es?

Also ja, das ist wirklich erschreckend und das erleben wir hier ja tagtäglich, wie jetzt auch in dieser Krise. Das ist auch ein Symptom einer Krisensituation. Wir erleben, wie die Völker von Europa auf einmal wieder ihre Klischees auspacken und gegeneinander instrumentalisieren. Das hat damit zu tun, dass wir in einer politischen und ökonomischen Krise sitzen. Dann kommen auch die mentalen Ausschließungen, die wir gegenüber anderen haben, hervor.

Gibt es auch eine andere Seite?

Es gibt auch eine andere Seite. Bei alldem, was wir vor dem Interview beredet haben. Es gibt auch eine andere Seite. Gehe die Straßen hier vom Kurfürstendamm entlang, da sieht man es. Meine Studenten beispielsweise. Es gibt den Aufstieg. Auf der anderen Seite fürchten die Pegida-Leute die angebliche Islamisierung des Abendlandes und auf der anderen Seite sind die Muslime im Aufstieg. Junge Muslime etablieren sich zu einer Elite in diesem Land. Das macht einigen Angst. Vor zehn Jahren haben wir darüber diskutiert, wie man das mit dem Religionsunterricht hinbekommt, dass der Islam keine Kirche sei, wie macht man das mit dem Islam im Rahmen der theologischen Fakultät und so weiter. Das ist heute alles vorhanden. Das heißt, wir haben trotz angeblicher Islamexperten und Menschen wie Sarrazin gewaltige Fortschritte gemacht. Das sollte uns Optimismus geben.

Wie aber ist dieses Paradoxon zu erklären? Auf der einen Seite Pegida und auf der anderen Seite wissenshungrige Muslime, die eigentlich eine Bereicherung für dieses Land sind.

Ich glaube, dass viele Menschen in dieser Gesellschaft schreckliche Abstiegswahnvorstellungen haben. Das Phänomen der Arbeitslosigkeit und die Vorstellung, dass sie nicht mehr mithalten können. Die materiellen Standards steigen immer weiter. Das Auto muss immer größer sein und der Urlaub immer länger. Es ist keine Kraft da, die diese Gesellschaft geistig unterfüttert und diesem Materialismus, der vorherrscht, etwas entgegensetzen könnte. Vor diesem Hintergrund haben die Ängste, abzusteigen oder den Anschluss zu verlieren, die Oberhand, und da sie die Ursache nicht bei sich selber sehen, suchen sie sie bei anderen.

Dem Islam!

Genau. Für diese Menschen ist der Islam da. Er ist für diese Menschen ein fremdes Phänomen und das kennen die Menschen überhaupt nicht. Wir haben keine Kolonien gehabt und vieles, was in der Islamischen Welt derzeit geschieht, scheint das leider auch noch zu bestätigen. Der fundamentale Islam, der Expansionismus, die Radikalität und so weiter. So, als ob das alles sozusagen schon vorprogrammiert ist. Für diese Existenzängste sucht man sich dann einen Sündenbock, und da kommt, wie Du schon sagst, der Islam wie gerufen.

Was können wir Muslime tun?

Ich finde, dass auf die Muslime eine große Verantwortung zukommt. Die Muslime können in eine solch materialistische Gesellschaft wieder Spiritualität hineintragen. Sie können zeigen, dass die Religion entspannt und den Umgang mit Menschen leichter macht jenseits des Materiellen. Und da sehe ich leider noch nicht hinreichende Kräfte im islamischen Milieu. Ich halte das für sehr wichtig. Vielleicht könnte irgendwann nach einer gewissen Einbettung eine Allianz entstehen. Den jetzigen Papst beispielsweise finde ich absolut klasse. Eine Art Allianz zu schmieden für die Gesellschaft, die dem Materialismus den Kampf ansagt und Spiritualität injiziert. Der Islam muss von den Muslimen spirituell in die deutsche Gesellschaft hineingetragen werden.

Was könnten die muslimischen Dachverbände tun?

Die Dachverbände? Überhaupt nichts. Die können bestimmte Interessen realisieren und den Muslimen einen bestimmten Status sichern. Aber das bleibt auch wieder im materiellen, rechtlichen oder politischen Rahmen. Die Dachverbände haben bis jetzt keinerlei Bemühungen vorzuweisen, hier eine spirituelle Dimension zu füllen, in der sie eine gewisse Autorität werden können. Ich glaube, das entwickelt sich auch bei den zahlreichen Muslimen die an den Universitäten tätig sind, als Künstler und ähnlichem. Sie werden eine geistige Dynamik in dieses Land einbauen. Jenseits dessen, was die Dachverbände erreichen oder predigen wollen.

Was würdest Du den vielen jungen Menschen in Bezug auf das Berufliche vorschlagen?

Junge Menschen müssen an eine Sache glauben und daran festhalten. Die Überzeugung haben, dass man etwas schaffen will und kann. Und diese Überzeugung, wenn sie da ist, dass Hindernisse überwunden werden können. Man muss an die Sache glauben und enthusiastisch daran arbeiten. Das ist meine Weisheit!

Ist beruflicher Erfolg unbedingt wichtig?

Es gibt natürlich Leute, die messen ihren Erfolg am Rang. Dass Erfolg ihnen das Gefühl gibt, sich über andere Menschen zu erheben. Das ist für sie ein Indiz des Erfolgs. Man ist dann irgendwer. Das ist nicht meine Auffassung. Meine Auffassung von Erfolg ist, dass ich eine Idee habe und diese Idee verwirklichen kann und dadurch auch mich selbst verwirklichen kann. Aber nicht verwirklichen gegen andere, sondern mit anderen gemeinsam. Das ist für mich Erfolg und so sollte es auch für junge Menschen sein.

Udo, ich habe heute viel gelernt. Ein großes Dankeschön!

Bitte sehr. War ein schönes Gespräch.

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