"Wir hätten ihn stoppen können", sagt der langjährige V-Mann der nordrhein-westfälischen Polizei Murat Cem über den späteren Terroristen Anis Amri. Der SPIEGEL hatte im März enthüllt, wie der als VP01 bekannt gewordene Informant immer wieder vor dem Islamisten gewarnt hatte, ohne dass die Sicherheitsbehörden daraus Konsequenzen zogen. An diesem Donnerstag hat der Amri-Untersuchungsausschuss des Bundestags nach SPIEGEL-Informationen beschlossen, Cem als Zeugen zu befragen.
Auch der Untersuchungsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags wird den früheren V-Mann wohl vorladen. Bislang hatte die Polizei öffentliche Auftritte ihres Spitzeninformanten vor Gerichten oder Parlamenten stets verhindert. Sie seien zu gefährlich, hieß es.
Murat Cem sei "ein wichtiger Zeuge", sagt die grüne Bundestagsabgeordnete Irene Mihalic. "Wir wollen ihn nun so schnell wie möglich vernehmen." Sie erwarte sich "vertiefte Informationen" darüber, wie die Sicherheitsbehörden den Islamisten Amri damals eingeschätzt hätten. "Es ist für uns weiter unklar, warum das Bundeskriminalamt die Hinweise der VP01 damals nicht zum Anlass genommen hat, die Überwachung von Anis Amri zu intensivieren." Zudem sei die Frage, ob Cem etwas über "eventuelle Mitwisser oder Mittäter" sagen könne. "Wir sind gespannt, ob der ehemalige V-Mann uns weitere wichtige Hinweise geben kann", so Mihalic.
"Die Geschichte des ehemaligen V-Manns Murat Cem elektrisiert alle, die sich mit dem Fall Amri befassen", sagt Benjamin Strasser von der FDP. "Offenbar haben die beteiligten Sicherheitsbehörden Anis Amri ganz eklatant unterschätzt und die damaligen Warnungen des V-Mannes nicht ernst genug genommen." Er halte es daher "für unbedingt nötig, dass Cem vom Untersuchungsausschuss des Bundestags als Zeuge vernommen wird".
Der V-Mann war von der nordrhein-westfälischen Polizei unter dem Decknamen Murat Cem in ein Islamistennetzwerk um den Hassprediger Abu Walaa eingeschleust worden. In Behördenakten wurde er als VP01 bezeichnet. Während der Ermittlungen traf Cem im November 2015 auf Anis Amri und warnte sofort vor dem Tunesier. Er berichtete von dessen Plänen, Kalaschnikows zu kaufen, um damit einen Anschlag in Deutschland zu begehen. Seinen Angaben zufolge schlug der V-Mann der Polizei einen überwachten Waffenkauf vor, um Amri zu überführen. "Aber die wollten das nicht", sagte Cem dem SPIEGEL.
Auch nachdem die Berliner Polizei für Amri zuständig wurde, habe er seine Warnung erneuert. "Passt gut auf den auf!", sagte Cem nach eigenen Angaben im September 2016 einem Beamten aus Nordrhein-Westfalen. "Der ist wirklich gefährlich." Drei Monate später beging Amri den Anschlag am Berliner Weihnachtsmarkt und ermordete zwölf Menschen.
"Die Sicherheitsbehörden im Bund und in den Ländern hätten die Chance gehabt, Amri rechtzeitig aus dem Verkehr zu ziehen", so der Vizevorsitzende des Bundestagsuntersuchungsausschusses, Mahmut Özdemir (SPD). "Informationen hätten konsequent zusammengeführt, bewertet und in Maßnahmen umgesetzt werden müssen."
Für Volker Ullrich, der für die CSU in dem Aufklärungsgremium sitzt, steht fest: "Koordination und Informationsaustausch zwischen und innerhalb der Sicherheitsbehörden müssen weiter verbessert werden." Auf V-Männer könnten die Behörden auch in Zukunft nicht verzichten, sagt Ullrich. Es brauche jedoch "eine klare gesetzliche Präzisierung des Einsatzes von V-Personen" durch die Polizei.
Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) hatte im SPIEGEL-Interview gesetzliche Änderungen nicht ausgeschlossen. Er wolle sich einer "möglichen Optimierung des Systems" nicht verschließen, sagte Reul. Fachleute kritisieren seit Jahren, dass es keine Gesetze zum Einsatz von Polizeispitzeln gibt.
spiegel
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