"Familien turnen herum und haben einen Riesenspaß"

  06 Juni 2020    Gelesen: 1028
  "Familien turnen herum und haben einen Riesenspaß"

Klettern ist nur für Profis? Nicht immer: Über Klettersteige kommen auch Laien an den Fels. Kurt Schall hat eine Skala für den Schwierigkeitsgrad erfunden - er erzählt vom Boom und aktuellen Trends.

20 Eisenringe lässt er in der Nordwand des Dachsteins verankern, Tritte und Eisenkeile in den Fels treiben. Dann knüpft Friedrich Simony, ein aus Böhmen stammender Intellektueller, ein Seil daran. Er will den höchsten Gipfel des Massivs in Österreich "auch minder gewandten Bergsteigern zugänglich machen", ganz ohne "hundertfache Todesgefahr", wie er es selbst bei seinen verwegenen Pioniertouren durchlebte.

Und dann war der Randkluftsteig fertig, der erste Klettersteig überhaupt - auch wenn er 1843 noch nicht so genannt wurde. Der Begriff tauchte erst 1907 auf, als die gesicherte Route durch die Wand des Pinut im Schweizer Kanton Graubünden eröffnet wird. Simonys Idee hatte bis dahin schon einige Nachahmer gefunden, in den Dolomiten werden die Steige aus Leitern und Tritten "Vie ferrate" (übersetzt: Eisenwege) genannt und im Ersten Weltkrieg ausgebaut.

Doch erst sehr viel später entstand die heute vor allem bekannte Skala, die mit A,B,C oder D den Schwierigkeitsgrad angibt. Erfunden hat es Kurt Schall. Der heute 60-jährige Skilehrer, Extremkletterer und Bergführer aus Alland in Niederösterreich verdiente in den Achtzigerjahren seinen Lebensunterhalt als Maschinenbauer. Doch jede freie Minute war er in den Bergen unterwegs.

"Die Leute wussten das und fragten nach Tourentipps. Manchmal bekam ich schon früh morgens 30 Anrufe", erzählt er. Er habe sich deshalb eine mechanische Schreibmaschine geschnappt und seine Kritzeleien abgetippt. "Die losen Blätter wurden mir regelrecht aus der Hand gerissen. Später habe ich sie zusammengeheftet und verkauft. Ich gab meinen Brotberuf auf und wurde Verleger." Seitdem gibt er Bücher rund um Klettersteige, Bergtouren und -abenteuer heraus.

"Wenn sie zu fauchen beginnt, weiß ich, dass es Richtung E geht"
Wenn er als Bergführer seine Kunden durch Kletterrouten lotste und am Nachmittag Feierabend hatte, hangelte er sich oft noch schnell durch einen Eisenweg. Dabei zeichnete er eine exakte Skizze der Route, das sogenannte Topo, wie es auch beim Sportklettern Usus ist. "Jeder Passage ordnete ich einen Buchstaben zu. A war leicht, D sehr schwierig."

Anhand der Schall-Skala wusste fortan jeder: C (schwierig) lässt "sehr steiles Felsgelände mit meist senkrechten Passagen oder leichten Überhängen erwarten, die mittels Leitern, Trittstiften und Klammern überwunden werden. Die Abstände zwischen den Stiften und Klammern sind größer als an einem B-Steig."

Inzwischen gibt es sogar einige F-Kraxeleien. Man kann sich denken, dass sich daran nur akrobatische Spinnenmenschen wagen sollten. Aber sind solche Bewertungen nicht immer auch subjektiv? Schall kennt die Frage: "Wichtigster Parameter ist meine Lebensgefährtin Regina: Sie klettert gut, hat aber nicht so viel Kraft: Wenn sie zu fauchen beginnt, weiß ich, dass es Richtung E geht. Mir als Extremkletterer fällt das gar nicht so sehr auf."

Schalls Skala und seine exakten Topos waren ein Novum und haben sich auch deshalb durchgesetzt. Die von dem als "Klettersteig-Papst" bekannten Eugen E. Hüsler stammende Bewertung von K1 bis K6 findet nicht mehr so häufig Verwendung. Während es beim richtigen Sportklettern fast in jedem Land ein anderes System gibt, ist die Welt der Eisenwege relativ übersichtlich und leicht vergleichbar.

"Ein ziemlich sicheres Vergnügen"
Und das ist auch gut so, denn es kommen ständig neue Routen hinzu. Schall schätzt die Zahl der Steige, die mindestens ein B auf seiner Skala haben, auf gut 1300, wovon etwa 200 auf Deutschland und rund 470 auf Österreich entfallen. Als Autor profitiert er zwar von neuen Steigen, er begrüßt den Bau weiterer Anlagen allerdings nicht. Allein am Dachstein gibt es heute 30 Eisenwege - Simony würde sich die Augen reiben.

Vor allem auf die Ferrate in Oberbayern dürfte in diesem Corona-"Urlaub daheim"-Sommer ein Ansturm stattfinden. Noch im Frühling hatten die Bergretter wegen der Anweisung der Alpenvereine, während der Coronakrise auf Skitouren und Bergtouren zu verzichten, vergleichsweise wenig zu tun. Droht der Rettung nun ein heißer Sommer?

Schall erinnert sich an den Sommer 2005, als in Oberösterreich der Seewand-Klettersteig über dem Hallstätter See eröffnet wurde, einer der schönsten, aber auch schwierigsten alpenweit. Damals kam es gleich im ersten Jahr zu rund 120 Rettungseinsätzen. Neue Anlagen würden natürlich auch immer Leute anlocken, die überfordert seien, sagt Schall.

Inzwischen, 15 Jahre später, komme es aber dank verbesserter Ausrüstung kaum noch zu tödlichen Unfällen: "Das passierte früher vor allem mit selbst gebastelten Klettersteig-Sets." Heute würden Fehler eher beim Umhängen der Karabiner geschehen. "Wenn man berücksichtigt, wie viele Sportler am Drahtseil unterwegs sind, ist das unter dem Strich ein ziemlich sicheres Vergnügen", sagt er. Er hofft deshalb, dass den Bergrettern trotz des erwarteten Ansturms ein Anstieg der Einsätze erspart bleibt.

Schweizer wollten kein Wettrüsten
Die Schweiz schien eine Zeit lang dem Motto "weniger ist mehr" zu folgen. Die Eidgenossenschaft war für "Ferratisten" lange Terra inkognita: Erst 1993 wurde mit dem Tälli-Klettersteig in den Urner Alpen der erste richtige Eisenweg eingeweiht. Davor galt das Motto: Wer ohne Drahtseil nicht hinauf kommt, bleibt eben unten. Weil dem Schweizer Alpen-Club SAC der Boom in den Nachbarländern nicht geheuer war, bat er alle Interessengruppen an einen Runden Tisch.

Tourismusverbände, Erbauer neuer Anlagen, Naturschützer, Kletterer sowie Bergretter und -führer vereinbarten in der Charta von Engelberg basisdemokratisch-schweizerisch, maximal Hundert Klettersteige in touristisch bereits erschlossenen Gebieten zu genehmigen. Es dürfe kein "Wettrüsten" um den spektakulärsten Steig zwischen den Tälern geben.

Genau das wirft die Naturschutzorganisation Mountain Wilderness der Szene jedoch vor und kritisiert den "Gipfel der Verdrahtung". Ist ein Steig erst mal gebaut, siegt meist die Kraft des Faktischen: In der Schweiz gibt es mittlerweile rund 120 Anlagen – und damit bereits 20 mehr, als in der Charta vereinbart.

Klettersteig-Boom schwächt sich ab
In Österreich kam ein Runder Tisch erst gar nicht zustande. Vielleicht auch deshalb, weil der ganz große Boom vorbei ist? "Es gab Jahre mit einer dreistelligen Zahl neuer Steige", sagt Schall. "Heute sind es nur noch 10 bis 15."

Alle hätten dazugelernt: Der Berg werde nicht mehr mit Eisenstiften misshandelt, Material behutsamer eingesetzt. "Einige Trends sind eindeutig positiv", meint Schall: "Früher war das etwas für Senioren. Heute turnen da junge Eltern mit ihren Kindern herum und haben einen Riesenspaß."

Der Trend gehe zu Eisenwegen in Talnähe, ohne lange Zustiege, mit gefahrlosen Abstiegen und Fluchtwegen bei Gewittergefahr oder Überforderung. "Der Genuss steht im Vordergrund. Im Idealfall wartet am Ausstieg eine Hütteneinkehr. Die Zeit der extrem schwierigen Steige ist vorbei."

Für Schall heißt das: Den Text für eine Kategorie G darf er bis auf Weiteres schuldig bleiben.

spiegel


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