Wenn die deutsche Auto-Industrie weiter trickst, droht ihr ein jähes Ende

  06 Oktober 2015    Gelesen: 809
Wenn die deutsche Auto-Industrie weiter trickst, droht ihr ein jähes Ende
Die Betrugs-Affäre bei Volkswagen hat viele Facetten. Sie ist nicht nur die Tat von einzelnen verantwortungslosen Ingenieuren, möglicherweise der abgelösten Führungsspitze des Konzerns. Sie ist Ausdruck eines übermütig gewordenen Systems ohne checks und balances – der Deutschland AG. Ändert diese ihre etablierten Verhaltensweisen nicht schnell und grundlegend, droht Deutschland der Bedeutungsverlust des wichtigsten Wirtschaftszweigs des Landes, und darüber hinaus Schaden als Industrie- und Wirtschaftsstandort.

Deutschlands Autoindustrie war in den letzten 20 Jahren enorm erfolgreich. Doch es gibt eine Achillesferse ihres Premium-Geschäftsmodells – die Emissionen. Die gesetzlichen Richtlinien und Grenzwerte sind zwar immer mehr verschärft worden. Doch in Europa konnte die Autoindustrie, notabene die deutsche, Definition, Kontrolle und Umsetzung in der Praxis immer erfolgreich beeinflussen, verzögern, verhindern. Und sich gleichzeitig durch geschicktes Marketing als Vorreiter in sauberen Technologien präsentieren. Der VW-Skandal ist ein Fakt, der die Spielregeln diesbezüglich ändern wird – auf globaler Ebene. Die deutsche Autoindustrie, nicht nur der Volkswagen-Konzern, tun gut daran, sich von dieser Form ihres Geschäftsmodells schnellstens zu verabschieden. Und die Politik sollte sich nicht wie in der Vergangenheit zum Dienstboten eines Konzerns und seines Hauptaktionärs machen, sondern regulatorisch eine Vorreiter-Rolle übernehmen. Die globalen Märkte gehorchen verschiedenen Regulierungen, die unterschiedlich technische Anpassungsformen zur Folge haben.

In den USA, bis vor kurzem der größte Automarkt der Welt, hat die Regierung bisher das Kyoto-Protokoll nicht unterschrieben. Es gibt keine spezifischen CO2-Ziele für die Autos. Die Emissionen sollen primär durch Reduktion des Verbrauchs reduziert werden. Diese Standards werden pingelig kontrolliert. Dabei ist die Besteuerung des Benzinverbrauchs gering. Die Benzinpreise sind viel niedriger als in Europa. Diesel ist teurer als Benzin. Schließlich sind die Obergrenzen für die Geschwindigkeit innerstädtisch wie auf den Highways im Vergleich zu Europa niedrig angesetzt, und sie werden anders als in Europa rigoros durchgesetzt. Unfälle mit Geschwindigkeitsübertretung können für den Verursacher ruinös sein. Die ganze Regulierung ist von den Interessen der Auto-, Erdöl- und Versicherungsindustrie sowie in einem bestimmten Sinn vom Schutz des Individuums geprägt. Die CO2-Emissionen werden in dieser Philosophie als global, aber weniger lokal wirksam angesehen. Die Forschung ging bis vor wenigen Jahren davon aus, dass es geringe lokale Effekte von CO2-Ausstoß gibt.

Die Regulation und Besteuerung gehen dadurch in eine Richtung, welche große, schwere Autos mit traditionellen Benzinmotoren begünstigt. Zwar hat auch bei diesen in der Periode 2006-15 eine Verbrauchsreduktion eingesetzt. Doch sie ist weit weniger als in Europa fortgeschritten. In der Praxis spielt aber eine Rolle, dass diese schweren Monster im Alltag nur gesittet bewegt werden können und nur auf bestimmten Highways bis ca. 70-80 Meilen pro Stunde ausfahren können. Dadurch kommen sie nicht in den Bereich sehr hoher Emissionen. Die Folge ist ein zwar relativ hoher CO2-Ausstoß auf dem Prüfstand, aber dafür weniger andere Emissionen. Traditionelle Benziner, Saug- oder Vergasermotoren sowie Turbomotoren ohne Direkteinspritzung, emittieren keine bedeutenden Mengen an Feinstaub oder Stickoxiden.

In Europa ist die Philosophie maximal auf die Reduktion des CO2-Ausstoßes ausgerichtet – in der Theorie. Zudem sind die Kraftstoffpreise steuerlich sehr stark belastet. Dabei begünstigen aber viele Länder, vor allem die großen, Diesel gegenüber Benzin. Diesel ist wesentlich billiger als Benzin etwa in Deutschland oder in Frankreich. Die Regulation vernachlässigte aber bisher Seiteneffekte moderner Motoren wie den Ausstoß von Stickoxiden oder von Feinstaub. Erst mit der Euro6-Norm sind diese adäquater erfasst. Die Hersteller reagieren mit dem sogenannten Downsizing. Sie setzen auf kleinere aufgeladene Motoren mit Direkteinspritzung, sowohl bei Diesel wie bei Benzinern. Dieselmotoren kommen vor allem bei großen Autos wie SUV’s, Premium-Automobilen mit großen Motoren zum Einsatz, während Benziner bei Kleinwagen dominieren und in der Kompaktklasse stark vertreten sind. Das Downsizing der Motoren reduziert in der Theorie den Verbrauch und damit die CO2-Emissionen. Gleichzeitig wird dies oft auch verwendet, um eine gesteigerte Leistung zu erreichen. Die klassische Formel für neue Modelle der Premium-Hersteller ist häufig gesteigerte Leistung bei reduziertem Verbrauch.

Die Folge davon ist ein ungebremstes Wachstum von immer leistungsstärkeren Dieselmotoren und Benzindirekteinspritzern. Genau wie in den USA hat auch das Gewicht der Autos ständig zugenommen. Heute hat ein großer Kombi ein Gewicht von annähernd zwei Tonnen, ein SUV liegt dann schon bei 2,5-3 Tonnen. Deren effektiver CO2-Ausstoß und andere Emissionen haben in der Realität nichts mit den ursprünglich anvisierten CO2-Zielen zu tun. Vor allem weil die Höchstgeschwindigkeiten in Europa innerorts wie auf Autobahnen ganz anders definiert sind als in den USA. In Deutschland darf ein Trumm von drei Tonnen mit einer Geschwindigkeit von 200 bis 250 Sachen über die Autobahn jagen und dabei rund 30 bis 50 Liter Diesel oder Benzin pro 100 Kilometer verbrauchen. Doch die Emissionen sind viel höher. Vor allem beziehen sie sich auf Stickoxide und Feinstaub.

Dieselmotoren verschiedener Generation haben unterschiedliche Effekte. In der Vergangenheit waren die Rußpartikel ein dominantes Problem: die schwarzen Schwaden aus dem Auspuff. Mit den ab 2003 verbauten Partikelfiltern können diese weitgehend reduziert werden. Grobe Rußpartikel sind kein Thema mehr. Was hingegen ein erhebliches Problem darstellt, ist die erhöhte Anzahl von Feinstaub- und Ultrafein-Partikeln. Für die Beseitigung oder Reduktion von Stickoxiden sind häufig Katalysatoren mit zusätzlicher Harnstoffeinspritzung (ad-blue) nötig. Diese sind teuer und teilweise etwas aufwändiger für den Kunden, weshalb sie gerade bei Mittelklassemodellen gerne weggelassen werden. Doch die Technologie existiert. Die Tests der amerikanischen Behörden zeitigten riesige Differenzen zwischen verschiedenen Automobilen. Es gab solche, welche die Euro5- und Euro6-Norm in der Realität einhielten, und andere, welche die Grenzwerte um das 40-fache übertrafen. Insgesamt ist die Belastung durch Stickoxide und teilweise Ultrafein-Partikel ein gravierendes Problem moderner Dieselmotoren geworden.

Die modernen Benzindirekteinspritzer sind noch giftiger als Dieselmotoren. Weil bisher kaum Partikelfilter für Motoren mit Benzindirekteinspritzung angeboten wurden, emittieren diese modernen Motoren ein Vielfaches an Feinstaub selbst von Dieselmotoren. Feinstaub kann im Unterschied zu gröberen Rußpartikeln vom Immunsystem des Körpers nicht mehr abgestoßen werden und direkt in die Lunge und in die Blutbahnen gelangen. Feinstaub, vor allem Ultrafeinstaub, gilt als hochgradig karzinogen. Heimtückisch ist, dass viele dieser Effekte erst langfristig auftreten, und in der Gegenwart nicht unbedingt erkennbar sind.

Die Rolle der Regulation ist dadurch zwiespältig, ja fast pervers, vor allem in Europa. Weil die Autos nicht realitätsnah getestet werden, sind die Labor-Werte verzerrt, gerade auch für die anvisierte Reduktion des CO2-Ausstoßes. Der CO2-Ausstoß wird gar nicht oder nicht substantiell genug reduziert. Das Primat der CO2-Ziele hatte und hat darüber hinaus zur Folge, dass gefährliche Emissionen in der Realität noch massiv ausgestoßen werden. Ältere Diesel ohne Partikelfilter oder ohne Katalysator mit Harnstoffeinspritzung oder moderne Benzindirekteinspritzer (wo der erste Partikelfilter erst dieses Jahr auf den Markt gekommen ist), können Stickoxide bzw. Feinstaub in hohen Konzentrationen freisetzen. Sie sind nicht sichtbar wie früher der Ruß. Aber sie sind heimtückisch.

Die Primärziele werden nicht erreicht, und dafür noch gewaltige Sekundäreffekte in Kauf genommen. Das ist die Bilanz der letzten 15 Jahre Emissions-Regulierung und -kontrolle. Die CO2-Emissionen sind nicht nur nicht wie beabsichtigt zurückgegangen. Sie stagnieren oder sind nur noch leicht gefallen. Bei einzelnen Herstellern wie GM sind sie sogar gestiegen. Vor allem gravierende, schwer gesundheitsschädigende Emissionen wie Stickoxide und Ultrafeinstaub-Partikel haben explosionsartig zugenommen.

Im Vergleich mit anderen Branchen ist auffällig, dass die Autoindustrie massiv unter- bzw. fehlreguliert ist und dass die Einhaltung der Regeln in der Praxis bisher nicht stattfindet. Die Regulation verfolgt zwar hehre übergeordnete Ziele wie die CO2-Reduktion. Sie ist in der konkreten Umsetzung und erst recht Kontrolle aber Sache der nationalen Regierungen. Sie macht die vorhandene Technologie der Autohersteller zum Ausgangspunkt. Diese bestimmen die Bedingungen (Labortests, mit enormen Freiheitsgraden, die nichts mit der Realität zu tun haben). Sie können via gefällige Regierungen, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich oder im UK, die realitätsnahe Kontrolle und Umsetzung durch die Ämter (Beispiel: Kraftfahrzeug-Bundesamt) verhindern und internationale Standards ständig hinausschieben. Ein Vergleich mit der Pharmaindustrie mag dies verdeutlichen. Die Pharmaindustrie ist noch stärker forschungsintensiv als die Autoindustrie. Sie kann neue Produkte nur auf den Markt bringen, wenn diese aufwändige, dreiphasige Testsequenzen bestanden haben. Dabei werden die Wirksamkeit des Medikaments für eine bestimmte Indikation, aber auch mögliche Nebeneffekte genauestens geprüft. Ein neues Medikament mit systematischen gravierenden Atembeschwerden, Lungen- und Herzkreislauferkrankungen sowie Krebs als mögliche Nebenwirkungen auf signifikanter Basis hätte nie eine Chance, akzeptiert zu werden.

Dabei ist die Autoindustrie eine der Industrien mit den größten externen Effekten: Der Autoverkehr spielt sich im öffentlichen Raum ab. Autos verlangen eine gewaltige Infrastruktur von Straßen, Autobahnen, Tunnels, Verkehrssteuerung. Der Autoverkehr erfordert eine Raumplanung um diese Infrastruktur herum. Autofahrer verursachen Unfälle mit Toten, Verletzten, Invaliden etc. Und der Verkehr per se verursacht Lärm und Emissionen – und zwar mit potentiell weit reichenden Effekten auf die Gesundheit der Gesamtbevölkerung.

Ein erster Schritt bei externen Effekten besteht darin, bei Neu-Entwicklungen die Kosten zu internalisieren. Dies wird dadurch erreicht, dass die beste Technologie bzw. deren Kosten für die Vermeidung der Emissionen dem Konsumenten auferlegt werden – nämlich dem Autokäufer. Die Ansprüche an die Technologie können nicht hoch genug sein. Wenn es eine verfügbare Technologie gibt, so muss sie zwingend angewendet werden. Auch wenn dadurch der Preis des Autos signifikant steigt. Einer der schlimmsten Aspekte des Verhaltens von Volkswagen war, dass sie die vorhandene Technologie nicht nutzten, weil dadurch der Preis eines Auto um einige 100 Dollars gestiegen wäre. VW verzichtete auf die Harnstoff-Nachbehandlung, welche die Stickoxide deutlich reduzieren kann. VW setzten diese nur bei den teureren Modellen ein. Die Praxistests scheinen aber auch dort weit überhöhte Stickoxid-Emissionen aufzuzeigen.

Eine zweite Maßnahme bei externen Effekten bezieht sich auf die Beseitigung von gravierenden Defiziten am existierenden Wagenpark. Dabei bildet die effektive Messung von Emissionen den Ausgangspunkt. Eine Abweichung der effektiven, von den für die Labortests vorgegebenen Normen wird unvermeidlich sein. Um 10, 20, 30 vielleicht 40 Prozent. Solche Überschreitungen sind der Tatsache geschuldet, dass die Vorgaben für Messungen auf dem Prüfstand galten. Sollte sich erhärten, dass effektiv die Emission von gesundheitsgefährdenden Schadstoffen ein Vielfaches – Sieben-, Zehn-, Vierzigfaches des Grenzwerts – beträgt, so erfordert dies weit reichende Maßnahmen. Das ist zwar vielleicht nicht dem Buchstaben nach, aber in der Sache ein schwerer Verstoß gegenüber den Vorgaben.

Dies sollte ebenfalls belastet werden – den Autoherstellern, welche diese Produkte verkauft haben. Sie sollten wie jetzt Volkswagen nur für eine – allerdings sehr große – Motorengeneration verpflichtet werden, Pläne vorzulegen, durch welche technischen Maßnahmen die Defizite zu beseitigen sind. Die Kosten sind von den Autoherstellern zu tragen, weil sie diese Lücke schamlos ausgenutzt haben. Die Industrie kann aber ein solches Vorhaben nicht im Alleingang beschließen, selbst wenn sie gute Vorsätze hätte. Eine der möglichen Konsequenzen wären Veränderungen in der Motorsteuerung, so dass dessen Leistung gedrosselt würde. Die Kunden würden dann gegen die gut meinenden Autohersteller klagen. Folglich muss eine solche technische Nachbesserung durch eine regulatorische Vorgabe der Regierungen zwingend vorgeschrieben sein. Dann gibt es keine Möglichkeit der juristischen Intervention.

Eine dritte Maßnahme besteht darin, Autos, deren übermäßige Emissionen im Alltagsbetrieb nicht vernünftig beseitigt werden können, effektiv die Betriebsgenehmigung zu entziehen. Extreme Emissionen sind ein aggressiver Angriff auf die Gesundheit der Bevölkerung in urbanen Zentren. Bei Gesundheit und bei schwer gesundheitsschädigenden Nebeneffekten kann es keine Toleranzen, kein Verständnis und keine Rücksichtnahme geben.

Mitleid mit den Besitzern von Autos, deren Leistung gedrosselt oder die aus dem Verkehr gezogen werden könnte, ist nicht angebracht. Bisher hat es die Besitzer großvolumiger oder aufgeladener Motoren mit hoher Leistung nicht wirklich gestört, wenn sie, teilweise mit wahren Monstern, Abgase und Partikel emittierten. Was die meisten Fahrer solcher Autos nicht wissen oder berücksichtigen: Wenn viele solcher Autos fahren, atmen sie die Luft aller anderen ein, auch wenn sie sich im Innenraum geschützt fühlen. Das Auto-Cockpit ist einer der Orte, bei denen die höchste Konzentration solcher Feinstaub-Partikel nachweisbar ist. Der Vordermann bläst seine Emissionen beim Rotlicht, im Stau oder in der Kolonne direkt in den Innenraum. Empirische Untersuchungen ergeben im Übrigen, dass dieser Effekt durch konsequentes Umschalten auf Innenluft deutlich reduziert werden kann.

Gemäß einem Bericht der Welt, der das Dokument vorliegt, plant die Bundesregierung aufgrund von Absprachen mit den Autoherstellern ganz anderes. Sie hat die Pläne Brüssels, per 2017 realistische Verbrauchstests einzurichten, schroff zurückgewiesen. Sie will solche erst per 2021 zulassen. Vorher sollen wie gehabt die Tests auf dem Prüfstand, mit verklebten Seitenscheiben, Pneus mit einem Druck von über 3 bar, mehrere Stunden vorgewärmten Motoren, ohne Beschleunigung und begrenzt auf 120 km/h Höchstgeschwindigkeit stattfinden. Wie alle wissen, bildet dies die Realität in deutschen Innenstädten und auf deutschen Autobahnen umfassend und detailgetreu ab.

Realistische Tests sind heute machbar, dies ist ein großer Unterschied zur Vergangenheit. Die Technologie (engl. Portable Emissions Measurement System, kurz PEMS) existiert seit Jahren und ist genügend ausgereift. Es gibt wohlhabende Leute und auch Unternehmen, die Organisationen wie NGO’s unterstützen, die solche Tests durchführen können. Die Deutschland AG steht nicht mehr einer schwachen, nur von einheimischen Grünen und Umweltschützern gebildeten Opposition gegenüber, die in den Medien leicht verteufelt werden kann. Die Kontrolle der Print-Medien und des staatlichen Fernsehens wie in der Vergangenheit genügen nicht. Das Internet ist ein Medium, das die Ergebnisse solcher Tests ausführlich und im Detail beschreiben wird. Das Internet ist weltweit verfügbar.

Die Idee, das Ganze wie gehabt auszusitzen, zu verschleppen, realistische Standards erst bis 2021 oder bis zum Sankt Nimmerleinstag einzuführen, mag verführerisch sein. Sie spiegelt vielleicht sogar die aktuellen Kräfteverhältnisse im politischen Europa wider. Sie würde scheinbar auch dem kurzfristigen wirtschaftlichen Interesse der Automobilproduzenten entsprechen. Vor allem auch deshalb, weil 2016/17 wohl ein Einbruch der Verkäufe in China und in den Schwellenländern erfolgen wird. Doch es ist eine Idee aus der Vergangenheit, welche die Struktur der Industrie vor 15 Jahren, aber nicht mehr die von heute abbildet.

Mit der Globalisierung und globalen Informationsvermittlung über das Internet stellt die Trickserei ein Rezept für die Implosion des Automobilstandorts Deutschland dar. Volkswagen und die gesamte deutsche Autoindustrie sind ‚global players’ geworden. Der Heimmarkt repräsentiert nur noch einen kleineren Teil des gesamten Absatzes. Die Probleme mit schlechter Luft, Vergiftung durch Autoabgase, krebserregende Feinpartikel sind global. Sie erregen außerhalb Deutschlands noch mehr Besorgnis. Sie sind in London und in Paris ein Krebsübel. Am schlimmsten sind sie in den Großstädten Chinas, wo je nach Saison ein wahrer Giftcocktail die Luft verpestet. Die Bevölkerung und die potentielle Kundschaft sind oder werden zunehmend sensibel, wenn es um derartig schwerwiegende Gesundheitsgefährdung geht.

Der Strom von Studien und empirischen Tests in der Praxis wird in den kommenden Monaten und Quartalen enorm anschwellen. Der weltweiten Verbreitung über das Netz kann die etablierte Autoindustrie, nicht nur Volkswagen oder die deutsche Autoindustrie, nicht viel entgegensetzen. Das Thema ist zu sensibel, als dass sich die Menschen abspeisen ließen. Eine Bunkermentalität mit gezinkten, offiziellen Tests würde der Autoindustrie ihre Glaubwürdigkeit restlos und endgültig ruinieren. Nur wenn diese glaubwürdig und vorausschauend agiert, kann sie wieder Vertrauen aufbauen. Anzeigenkampagnen in den etablierten Printmedien, bei Online-Medien oder im Fernsehen mit Traumbildern, welche mit der alltäglichen Wirklichkeit nichts zu tun haben, können kein Gegengewicht darstellen. Der Schaden wird ganz andere Dimensionen annehmen, wenn Volkswagen, die deutsche Autoindustrie, der VDA und Bundesregierungen gleich welcher Couleur und Zusammensetzung mit dieser bisher bewährten Taktik des Tricksens, Verschleierns, Verschleppens, politischer Einflussnahme vor und hinter den Kulissen fortfahren sollten – dem bisherigen Erfolgsgeheimnis der Deutschland AG in der Regulation des Autosektors.

Die Deutschland AG, nicht nur Volkswagen oder die deutsche Autoindustrie, riskieren ihre Glaubwürdigkeit und auch alle Werte, die mit der deutschen Industrie verbunden sind, wenn sie so fortfahren. In einem Markt für Konsumenten, d.h. nicht für professionelle Käufer, ist das Vertrauen, d.h. die instinktive Assoziation mit positiven Werten, der Kern des Verkaufserfolgs. Wird dieses Vertrauen missbraucht, erschüttert oder jahrelang durch Praxistests und konkrete Reportagen bis zur Lächerlichkeit vorgeführt, ist es weg und nicht oder schwerlich wieder herzustellen.

Auch für die deutsche Bundesregierung steht ihre gesamte Glaubwürdigkeit auf dem Prüfstand – und zwar in ganz Europa. In der Eurokrise hat die deutsche Bundesregierung mit nervtötender Regelmäßigkeit auf die Einhaltung einmal vereinbarter Regeln gepocht. Selbst dann, wenn sie sich in der Praxis als nicht effizient oder sogar als unsinnig erwiesen haben. Die Definition, die Messung und die Kontrolle von Budgetdefiziten und von Staatsschulden wurden drastisch verschärft. Die Kanzlerin, Finanzminister Schäuble und Bundesbankpräsident Weidmann haben eisern auf Austerität und Einhaltung der Regeln gepocht.

Nun, da es um gravierende Verfehlungen von Deutschlands Hauptindustrie und um eigene systematische Fehlhandlungen bei der Definition, Messung, zeitlichen Datierung und Umsetzung von Umweltstandards geht, soll alles anders sein. Da wird getrickst, getäuscht, gelogen und mit frisierten Zahlen operiert, welche die Sache ins Gegenteil verkehren. So fortzufahren, wäre eine Anmaßung. Sie würde jegliche Glaubwürdigkeit direkt vernichten, welche die Bundesregierung bei anderen einfordert. Die Bundesregierung würde sehr rasch einen erheblichen Teil ihres Einflusses in Europa verlieren. Andere Länder mehr oder weniger explizit korrupter Zustände zu bezichtigen, selber aber ein Musterbeispiel für ‚crony capitalism’ abzuliefern, geht nicht.

Ein Risiko ist auch eine regulatorische Verschärfung aus zusätzlichen, aus konjunkturpolitischen Gründen: Diese Woche hat Mark Carney, Gouverneur der Bank of England, eine ganz ungewöhnliche Warnung an die City-Community erlassen: Achtung bei Energieanlagen! Die miserable Entwicklung des CO2-Ausstoßes und der globalen Klimaerwärmung könnten drastische regulatorische Schritte erforderlich machen. Solche drakonischen Maßnahmen würden einen bedeutenden Teil der Energie-Anlagen obsolet und ökonomisch wertlos machen.

Carney ist als Vorsitzender des Stabilitätsrates der G-20 ein Insider, ein Transatlantiker. Seine Warnung bezieht sich auf konjunkturpolitische Denkübungen, welche jetzt mit Hochdruck vorangetrieben werden. Der Kernpunkt ist folgender: Bei einer schweren Krise Chinas und der Schwellenländer sind die Mittel der klassischen Konjunkturpolitik erschöpft (Geldpolitik) bzw. politisch blockiert (Finanzpolitik). Was als Konjunkturprogramm eingesetzt werden könnte, ist ein regulatorisch erzwungener Prozess der kreativen Zerstörung im Sinne Schumpeters. Man verbietet die Nutzung bestehender hoch verschmutzender bzw. klimaschädlicher Technologie, vielleicht verbunden mit steuerlichen Anreizen für Neuinvestitionen, und will mit diesen Mitteln einen gesamtwirtschaftlichen Investitionsschub erzwingen, der sich mit niedrigen Zinsen partout nicht einstellen will.

Bezogen auf die Autobranche ist nicht auszuschließen, dass solche Standards plötzlich und drastisch verschärft werden. Noch größer wird die Gefahr sein, sobald die Automobile von Apple und Google und die moderne Batteriefabrik von Tesla bereitstehen. Google und Apple mit ihren Autoplänen, mit ihrer Finanz- und mit ihrer globalen Medienmacht über das Internet, auf Mobilgeräte, bald dem Fernsehen sind den Deutschen Autobauern und der ganzen Deutschland AG global überlegen. Sie genießen auch den Vorteil des unbelasteten Newcomers.

Das Vertrauen in Volkswagen ist schwer angeschlagen; das Vertrauen in die deutsche Autoindustrie angekratzt. Vertrauen wiederherstellen, heißt eine allseits akzeptierte Messbarkeit und Messmethodik zu kreieren und durchzusetzen. Ohne dies werden viele Autokäufer nicht mehr Autos kaufen. Andere Testprozeduren, nicht nur unter Laborbedingungen und mit Optionalitäten für die Autohersteller, die mit der Realität nichts zu tun haben, sondern alltagsrealistische Tests. Bis 2021 zu verschieben, vermittelt den Eindruck, dass alles nur dazu dient, etwas zu verschleiern. Dann werden sich die Käufer erst recht von deutschen Produkten abwenden.

Die Auto-Industrie verkauft Träume, Illusionen, Assoziationen. Sie wirbt mit Bildern, welche Autos in speziellen Landschaften, einsamen Buchten oder Landstraßen zeigt. Sie weckt den Wunsch nach selbst bestimmtem Leben, das Mobilität mit Individualität verbindet. Die Realität ist leider oft genug der alltägliche Stau, die Hektik, die Autoabgase in großen Städten und Agglomerationen. Die großen Autokonzerne sind denn auch gewaltige Marketing-Agenturen, welche solche Bilder verbannen und dafür die Sonnenseiten des Lebens aufzeigen. Volkswagen und die deutsche Autoindustrie stehen dabei für Spitzenqualität in sehr vielen Aspekten.

In den vergangenen 15 Jahren haben Volkswagen und andere Autohersteller Träume und Illusionen zweiter Art verkauft. Sie haben immer schwerere Autos mit guten bis exorbitanten Fahrleistungen als vereinbar mit reduziertem CO2-Ausstoß und geringen oder keinen Emissionen angepriesen. Mit dem Volkswagen-Skandal sind diese Träume geplatzt. Die Prioritäten gerade deutscher Autohersteller sollten drastisch neu definiert werden. Deutschland sollte ein Vorreiter strenger Normen werden, und nicht ein Bremser. Seine Autoindustrie sollte Normen weit übererfüllen, und nicht bei praxisfremden Standtests knapp erreichen und allenfalls auch mal betrügerische Mittel anwenden. Eine realistische Darstellung der Möglichkeiten und Grenzen und der Alternativen gegenüber Kunden und Öffentlichkeit gehören dazu. Die Regierung sollte bei diesem notwendigen Paradigmawechsel alle Hilfestellung leisten, sowohl in Bezug auf die Verschärfung von Normen, Praxistests wie auch auf die Aufarbeitung von Altlasten. Sonst droht die Implosion nicht nur in der Autoindustrie, sondern auf einem weiten Spektrum der ganzen Politik der EU.

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