ntv.de: Herr Juan Simón, wie erinnern Sie sich an die Voraussetzungen für das WM-Finale 1990?
Juan Simón: Wir sind schon im Halbfinale gegen Italien richtig verpfiffen worden. Das war ein komisches Spiel. Sie haben uns vier Spieler weggenommen, die unheimlich wichtig waren. Vor allem Claudio Caniggia musste wegen eines Handspiels draußen bleiben, das man damals überhaupt nicht mit Gelb ahndete, und noch weniger in der Mitte des Platzes. Wir gingen also dieser sehr wichtigen Stammspieler beraubt in das Finale. Dazu hatten viele von uns körperliche Probleme, Diego Maradona etwa, auch Jorge Gurruchaga.
Was hatte Ihnen Trainer Carlos Bilardo mit in die Partie gegeben? Wie sollten Sie gegen die Deutschen auftreten?
Wegen der Ausfälle hatten wir mehrere Spieler, die auf ungewohnten Positionen aufliefen. Wir wussten, dass wir unterlegen waren und uns Deutschland wahrscheinlich dominieren würde. Eigentlich will man so lange wie möglich den Ball in den eigenen Reihen halten. Das haben wir nicht geschafft und gerieten unter Dauerdruck.
Das Publikum hat Sie und die argentinische Mannschaft bei den Nationalhymnen gnadenlos ausgepfiffen. Maradona war auf 180. Hatte das einen Effekt auf Sie?
Das schmerzte in jenem Moment. Aber Auswirkungen auf unser Spiel hatte es nicht. Wir sind professionelle Spieler und an solche Umstände gewöhnt. Das war ja nicht das erste Mal bei dieser WM so, in Mailand, Turin und anderen Städten im Norden Italiens hatten wir das schon erlebt.
Wie sehen Sie inzwischen das Spiel?
Wir haben mit einem Elfmeter verloren, über den wir auch 30 Jahre später noch diskutieren. Das bedeutet, dass er alles andere als eindeutig war. Es war eine Entscheidung in einem Finale, wo man immer alles hineinwirft! Zudem waren nur noch fünf Minuten auf der Uhr. Da muss man weiterspielen lassen, nicht so etwas pfeifen. Aber, und das haben, glaube ich alle argentinischen Spieler schon gesagt, eigentlich wäre das Foul von Goycochea an Augenthaler ein klarer Elfmeter gewesen.
Obwohl also Deutschland der Favorit war und auch so spielte, den Platz die letzte halbe Stunde völlig kontrollierte, haben wir das gezeigt, was wir konnten. Doch die Spielsituation und der ganze Kontext reichte nicht aus für einen Strafstoß. Das habe ich damals gedacht und denke ich auch heute noch. Es gab auch keine eindeutige Torgefahr - anders als beim Foul an Augenthaler.
Aber auch für Argentinien hätte es schon einen Strafstoß geben müssen.
Ja. Es gab ein skandalöses Foul zehn Minuten vor dem Spielende, das wir erst jetzt mit viel später veröffentlichten Bildern einer Hintertorkamera belegen können. Lothar Matthäus foult Gabriel Calderón und Schiedsrichter Edgardo Codesal steht einen Meter daneben. Da besteht überhaupt kein Zweifel!
Was wurde eigentlich auf dem Platz gesprochen? Italienisch? Viele der Deutschen und Argentinier spielten zu dieser Zeit in der Serie A, der damals stärksten Liga der Welt.
Maradona kannte ja einige aus der Liga (damals beim SSC Neapel, Anm. d. Red.), José Basualdo spielte zu dieser Zeit in Deutschland (VfB Stuttgart, Anm. d. Red.) und konnte mit den Deutschen reden. Man spricht normalerweise in seine eigene Sprache auf dem Platz. Bei Diskussionen redete Maradona also mit denen, die er schon kannte. Ich selbst habe nicht ein Wort mit einem deutschen Spieler gewechselt. Der Umgang miteinander war aber die ganze Zeit sehr fair.
Welcher Spieler ist Ihnen am meisten in Erinnerung geblieben?
Für mich spielte der kleine blonde Thomas Häßler ein eindrucksvolles Finale, die Nummer acht. Der war überall.
Was ist Ihnen noch von der deutschen Elf in Erinnerung geblieben?
Es war eine sehr, sehr gute Mannschaft. Die beiden Manndecker waren hervorragend, die beiden Außenverteidiger haben uns fast pausenlos mit attackiert. Häßler war für mich der Motor des Teams und Lothar Matthäus der Lenker. Dazu war der Angriff angsteinflößend mit Jürgen Klinsmann und Rudi Völler. Es war eine geniale Elf.
Sie haben vor Kurzem gesagt, dass Ihre argentinische Mannschaft "zu allem fähig war". Wie meinten Sie das?
Diese Mannschaft war mystisch. Sie konnte jede Situation meistern. Das treffendste Lob hat uns der Trainer von Jugoslawien ausgesprochen: Der Unterschied zwischen Argentinien und den anderen Mannschaften ist, dass man die Argentinier töten muss, um zu gewinnen. Für uns ist das ein Lob. Vor allem gewannen wir gegen Brasilien, das war für jeden unheimlich schwer. Wir hatten sieben Weltmeister unter uns und sie wollten sich den Pokal nicht einfach wegnehmen lassen. Was uns fußballerisch fehlte, machten wir mit Willen und Persönlichkeit wett.
War es ein Nachteil, dass Schiedsrichter Codesal auch Spanisch sprach?
Nun ... wir haben ihm alles in Gesicht gesagt, wenn er sich geirrt hat. Alles. Dabei haben wir ein bisschen übertrieben, das stimmt. Aber ich glaube, er hat niemanden dafür vom Platz gestellt, weil er sich mit seinen Urteilen wie dem Elfmeter nicht sicher gewesen war.
Der Schiedsrichter sagt noch immer, es sei die richtige Entscheidung gewesen.
Was soll er auch sonst sagen?
Die deutschen TV-Kommentatoren sprachen damals fast schon entschuldigend von einer Konzessionsentscheidung. Sogar laut Matthäus, der eine hervorragende Sicht hatte, war es ein sehr zweifelhafter Strafstoß.
Völler äußert sich ähnlich. Und alle reden immer von diesem Foul an Augenthaler ...
... wobei mich erstaunt, dass auf argentinischer Seite jetzt erst über die Aktion gegen Gabriel Calderón diskutiert wird, 30 Jahre später.
Ich finde es sehr seltsam, dass die Szene vorher nie aus diesem Blickwinkel gezeigt wurde. Höchst seltsam. Die Bilder kamen ja jetzt erst heraus, weil sie Gabriel zugespielt wurden. Das erhärtet den Verdacht nur noch, dass etwas nicht gestimmt hat.
Verdacht gegen wen?
Die Fifa. Die Fifa und wer auch immer die Exklusivrechte besaß.
Mit Juan Simón sprach Roland Peters in Buenos Aires
Quelle: ntv.de
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