Es ist noch nicht lange her, da hat Jürgen Klopp viele gute Ratschläge bekommen. Nachdem sein FC Liverpool in der vergangenen Saison trotz nur einer einzigen Niederlage die Meisterschaft in der Premier League verpasst hatte, war sich die englische Fachwelt einig, dass der Trainer Verstärkung auf dem Transfermarkt holen muss, um endlich das seit 1990 dauernde Warten auf die nationale Krone zu beenden. Die Weiterentwicklung eines Fußballteams wird in England grundsätzlich an den Summen bemessen, die ein Verein in neues Personal investiert. "Vor einem Jahr haben alle gesagt: Kauf den, kauf den und kauf den", hat sich Klopp gerade erinnert, doch er hatte andere Pläne damals, und er lag richtig.
Der FC Liverpool hat bekanntlich gerade zum ersten Mal seit 30 Jahren wieder den Titel geholt, und einer der erstaunlichsten Aspekte daran ist die Tatsache, dass die Reds die Evolutionsstufe vom Vizemeister zum Meister geschafft haben, ohne im vergangenen Sommer aufzurüsten. Die wirklich transformativen Käufe hatte der Verein schon zuvor getätigt mit der Verpflichtung von Torwart Alisson, Abwehrchef Virgil Van Dijk und Mittelfeld-Prellbock Fabinho. Vor einem Jahr vertraute Klopp darauf, dass die knapp verpasste Meisterschaft (und der Gewinn der Champions League) Treibstoff genug sind, um sich in dieser Saison noch ein paar Prozente zu steigern, und seine Mannschaft hat ihn in diesem Vertrauen bestätigt.
Dass er gerade noch einmal an die Ratschläge der Fachwelt erinnert hat, liegt daran, dass er sich jetzt mit der Frage befassen muss, wie er seine frisch gekürte Meistermannschaft so weiterentwickelt, dass sie den Titel in der kommenden Spielzeit erfolgreich verteidigt, und auch diesmal plant er offenbar wieder eine Erneuerung von innen heraus. Wegen der Corona-Krise stellt Klopp die Öffentlichkeit schon seit Wochen darauf ein, in diesem Sommer besser keine teuren Transfers zu erwarten. Außerdem glaubt er, dass in seinem Kader noch genug Potenzial verborgen ist. "Wir können uns noch verbessern und können noch einen Schritt machen", sagte der Trainer nach der opulent inszenierten Meisterkrönung nach dem letzten Heimspiel der Saison (5:3 gegen Chelsea) am Mittwoch, und er gestand: "Das müssen wir auch. Die anderen schlafen nicht." Damit meinte er die Konkurrenz, die künftig tatsächlich stärker sein dürfte als in der aktuellen Spielzeit, die an diesem Sonntag endet.
Die Konkurrenz attackiert den Transfermarkt
Der entthronte Champion Manchester City ist mit dem Rückenwind der aufgehobenen Europapokal-Sperre wild entschlossen zum Gegenschlag und plant teure Umbauten am Kader, vor allem in der Defensive. Der FC Chelsea hat schon groß investiert in Hakim Ziyech und Timo Werner. Kai Havertz aus Leverkusen könnte folgen. Allerdings müssen auch die Londoner dringend ihr Abwehr- und Torwart-Problem lösen. Manchester United hat sich unter Ole Gunnar Solskjaer stabilisiert und spielte in den vergangenen Wochen teilweise schon wieder wie ein Titelkandidat. Der Rekordmeister scheint so langsam den Weggang von Trainer-Ikone Sir Alex Ferguson vor sieben Jahren zu verarbeiten. Dieser war ein Meister darin, seinen Kader auf der Höhe des Erfolgs immer wieder zu verändern, etablierte Spieler auszusortieren und neue Kräfte zu importieren, um keine Genügsamkeit aufkommen zu lassen. Sein Personalmanagement gilt in England als Bauplan für langfristigen Erfolg.
Klopp hat allerdings seinen eigenen Bauplan. "Ich bin komplett glücklich mit meiner Mannschaft", hat er gerade versichert. Das Team bleibt weitgehend zusammen (nur ein paar Ersatzspieler werden verabschiedet) und verfügt über eine Altersstruktur, die eine Verjüngung nicht sofort nötig macht, sondern eher mittelfristig. Die meisten Stammspieler sind Mitte, Ende 20. Wenn Klopp davon spricht, dass sich die Mannschaft noch steigern kann, dann denkt er zum Beispiel an den Ex-Leipziger Naby Keïta. Außerdem glaubt der Trainer, dass sich Nachwuchsspieler wie Rechtsverteidiger Neco Williams, Mittelfeldmann Curtis Jones oder Rechtsaußen Harvey Elliott, die alle schon in der Premier League zum Einsatz kamen, zu echten Verstärkungen entwickeln können.
Bei Transfers hat Liverpool eine hohe Hemmschwelle. Das war zu beobachten, als sich der Verein aus dem Werben um Werner (für 53 Millionen Euro zu Chelsea) zurück zog, obwohl gerade im Sturm interne Konkurrenz gut tun würde. Es wäre vor diesem Hintergrund überraschend, wenn Thiago vom FC Bayern an der Anfield Road landen würde, wie viele Medien vermuten. Mit seinem Alter von 29 Jahren, seiner Verletzungsanfälligkeit und dem kolportierten Preis von rund 40 Millionen Euro für einen Spieler, den der Klub nicht dringend braucht, passt er nicht ins Transferschema der Reds. Für Thiago spricht natürlich: seine Qualität. "Es werden in der neuen Saison viele Prüfungen auf uns zukommen. Dafür müssen wir bereit sein. Einige der Dinge können vielleicht auf dem Transfermarkt entschieden werden, aber sicher nicht alle", sagt Klopp. Er will die Weiterentwicklung seiner Mannschaft nicht von teuren Zukäufen abhängig machen. Das ist eine riskante Strategie. Aber eine, mit der Liverpool Meister geworden ist.
Quelle: ntv.de
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