“Europas Streitkräfte sind ausgehöhlt“

  29 Februar 2016    Gelesen: 844
“Europas Streitkräfte sind ausgehöhlt“
Der Think-Tank "Atlantic Council" analysierte die Militärs sechs wichtiger europäischer Nato-Staaten und stellt ihnen ein blamables Zeugnis aus. Nach Jahren der Abrüstung mangelt es an allem, die Kampfkraft ist mäßig.
Die meisten europäischen Streitkräfte sind so "ausgehöhlt", dass sie nicht mehr imstande sind, größere Operationen rasch durchzuführen: Zu diesem (nicht ganz überraschenden) Schluss kommt der US-Think-Tank "Atlantic Council" in einer Studie, die am Wochenende veröffentlich wurde. Insgesamt bestünden ernste Zweifel, ob sich die Nato gegenüber einer größeren Bedrohung, namentlich aus Russland, effektiv zur Wehr setzen könne.

Im Rahmen der Studie "Alliance at Risk: Strengthening European Defense in an Age of Turbulence and Competition" hat sich die Washingtoner Institution, deren Präsident, Jon Huntsman, Botschafter der USA in mehreren Staaten sowie 2005 bis 2009 Gouverneur von Utah war, den Zustand der Militärs von sechs Nato-Staaten angesehen. Man hat vorrangig Offiziere und andere Militärfachleute in diesen Ländern befragt. Deren grimmiger und einstimmiger Befund: Die Nato bzw. Europa seien in militärischer Hinsicht weitgehend von den USA abhängig, um sich verteidigen zu können.

Schon eine Brigade ist kaum zu stemmen

Der Zustand der britischen Armee etwa sei so übel, dass schon die Verlegung einer einzelnen Brigade (Stärke etwa 3500 bis 5500 Mann) kurzfristig eine enorme Herausforderung darstelle, ja kaum möglich sei, schreibt in dem Bericht der pensionierte britische General Richard Shirreff. Er war unter anderem Vizebefehlshaber der Nato in Europa (2011-14) und Offizier im Golfkrieg 1990/91, Kommandeur einer Panzerbrigade im Kosovo und der Multinationalen Division Südost im Irak (2006).

"Als vorigen November eine kleine gepanzerte Kampfgruppe nach Polen verlegt wurde, um an einem Nato-Manöver teilzunehmen, hätte man dafür beinahe Panzer aus unseren Ausbildungseinheiten in West-Kanada herüberbringen müssen, weil der Zustand der Truppe und die Ersatzteillage im Vereinigten Königreich selbst so dürftig ist", schreibt Shirreff.

Der Report nimmt sich auch die Streitkräfte Polens, Italiens, Norwegens, Frankreichs und Deutschlands vor und kommt zu, wie gesagt, grimmigen Schlüssen.

In Deutschland, dem "wirtschaftlichen Kraftwerk Europas", habe man das Militär seit mittlerweile mindestens einer Generation unterfinanziert. Folge: Die Bundeswehr sei ohne fremde Hilfe unfähig für größere Operationen. Und mit einem Militärbudget von nur 1,3 Prozent des BIP lasse sich das auch nicht ändern, meint laut Atlantic Council ein früherer Generalinspekteur der Bundeswehr, General Bruno Kasdorf. Zwar habe es zuletzt Versprechen der Regierung gegeben, wieder mehr Geld ins Militär zu investieren; es sei aber zu befürchten, dass das Gros davon von Personalkosten aufgefressen werde.

Material großteils kaum einsatzbereit

Die Probleme von Mannschaft und Material würden immer häufiger offensichtlich, meint Patrick Keller, Koordinator für Sicherheitspolitik der Konrad Adenauer Stiftung. Die Mehrzahl der schweren deutschen Waffen seien nicht mehr ohne weiteres rasch einsatzbereit, nicht einmal für gewöhnliche Übungen. Von den 31 Kampfhubschraubern Eurocopter "Tiger" (nach anderen Quellen sind es 44, Anmerkung) beispielsweise seien nur zehn rund um die Uhr einsatzbereit, heißt es. Ähnliche mager sehe die Bereitschaftsrate etwa bei Kampf- und Transportflugzeugen sowie Schützenpanzern aus.

Die Verteidigungskraft Norwegens, so ein norwegischer Militärfachmann, wiederum liege merklich in den Händen der USA. Die US Marines haben tatsächlich große Depots mit schwerem Material in dem nordischen Land angelegt, um im Notfall nur noch die nötigen Mannschaften schnell dorthin verlegen zu müssen.

Norwegen selbst könne mit den aktuellen Finanzmitteln für seine an sich modernen Streitkräfte seine Verteidigung nicht mehr sichern und Verpflichtungen innerhalb der Nato nicht mehr nachkommen. Dabei sei das Land zusehends verletzlich durch Russlands modernes Arsenal an Langstrecken-Präzisionswaffen, etwa Boden-Boden-Raketen und Marschflugkörper.

Insgesamt gäben die Nato-Staaten, allen voran die USA, zusammen zwar ein Vielfaches mehr für Verteidigung aus als Russland - der Bericht nennt die Zahl von rund einer Billion (1000 Milliarden) Dollar. Allerdings unterstützten die Ausgaben der Europäer weniger die Materialausstattung und Einsatzbereitschaft sondern flössen in zu großem Maße in Aufwendungen für Personal, Verwaltung und Liegenschaftserhaltung.

Mehr Präsenz im Baltikum

Zu den Maßnahmen, mit denen Europa sich selbst vorerst stärken könne, zählt der Bericht die Einrichtung einer dauerhaften großen Nato-Basis im Baltikum. Das allerdings ist nicht so einfach, denn laut eines Vertrags zwischen der Nato und Russland ist eine dauerhafte Präsenz "substanzieller" Nato-Streitkräfte im Baltikum und Osteuropa unzulässig. Aktuell will der Westen das umgehen, indem das Material für eine gemischte Brigade der US Army in Polen und/oder den drei baltischen Republiken eingelagert wird, während das Gros der Mannschaft dafür immer nur für eine bestimmte Zeit vor Ort ist und regelmäßig und fließend abgelöst wird. Mit dem Rotationsmodell sowie der moderaten Größe der Truppe will die Nato dem Verbot einer dauerhaften Präsenz entsprechen, was Russland durchaus etwas anders sieht.

Die kleinen Streitkräfte der baltischen Staaten, die übrigens auch keine nennenswerten Luftwaffen haben, wären im Ernstfall einem großen Gegner - in allen Planspielen des Westens ist das primär Russland - nicht gewachsen und könnten nur hinhaltend verteidigen. Nur Polen mit seinen respektablen Streitkräften (gesamt rund 120.000 Mann aktiv, eine halbe Million Mann Reserven) ist dort in der Nähe und in der Lage, halbwegs rasch zu intervenieren.

Erst Anfang Februar hatte indes eine Kriegssimulation der Rand-Corporation (USA) ergeben, dass die baltischen Staaten bei einem russischen Angriff binnen 36 bis 60 Stunden großteil besetzt sein würden, ungeachtet schnell eintreffender Reserven und von Luftangriffen des Westens. In den vergangenen Jahren waren solche Simulationen praktisch zum gleichen Ergebnis gekommen.

Die Nato hat zuletzt ihre schnelle Krisenreaktionseinheit auf 40.000 Mann fast verdoppelt und bastelt innerhalb dieser an einer brigadegroßen "Speerspitzen-Einheit", die schon binnen 48 Stunden zum Einsatz kommen kann. Rund die Hälfte letzterer Formation stellt Deutschland. Es gibt aber Zweifel, ob dieser Verband nicht zu klein ist, vor allem angesichts eines potenziell großen Einsatzraums. Russland kann in derselben Zeit außerdem ein Mehrfaches an Kräften aufbringen und hätte unter Umständen einen bedeutenden operativen Vorsprung. Zudem gibt es Unsicherheiten bezüglich der ausreichenden Geschwindigkeit des politischen Prozesses, der nötig ist, um diese Nato-Kräfte überhaupt in den Einsatz zu schicken.

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