Die Zuschauer des MDR-"Sommerinterviews" mit dem Thüringer AfD-Chef Björn Höcke wurden am Dienstag von einer vermeintlich frohen Kunde überrascht. "Corona ist vorbei und wird wahrscheinlich auch nicht wiederkommen", sagte der AfD-Fraktionschef im Thüringer Landtag. Höcke erklärte die aktuellen Infektionszahlen mit falschen positiven Ergebnissen und legte nach: "Es ist eine unverhältnismäßige Politik, einfach Grundrechte außer Kraft zu setzen." Welche Grundrechte derzeit ausgesetzt seien, erläuterte Höcke nicht, als er auf Nachfrage des MDR-Moderators seine Beteiligung am Aufruf zur Corona-Demonstration am kommenden Samstag in Berlin erklärte.
Um die 20.000 Gegner der Pandemie-Politik werden in der Hauptstadt zu zwei Veranstaltungen erwartet: zu der von einem breiten Bündnis getragenen "Versammlung für die Freiheit" und zu einer Kundgebung der Stuttgarter Initiative Querdenken 711. Es soll das zweite große Treffen der Corona-Kritiker werden, nachdem sich bereits am 1. August nach Polizeiangaben mindestens 20.000 Menschen in Berlin getroffen hatten.
Die Veranstaltung hatte wegen der Teilnahme von zum Teil offen rechts auftretenden Extremisten eine Kontroverse über die demokratische Gesinnung der meisten Teilnehmer ausgelöst. Radikale und Extremisten könnten am Samstag noch zahlreicher vertreten sein. Das Rechtsaußen-Lager der AfD trommelt genauso für die "Versammlung für die Freiheit" wie auch extremistische Gruppierungen wie NPD und Dritter Weg. "Hier werden die Corona-Proteste bewusst unterwandert, um rechtsextremes Gedankengut anschlussfähig zu machen", warnte Berlins Innensenator Andreas Geisel im "Tagesspiegel".
"Kein Zufall, dass AfD da drauf springt"
Höcke wollte auf Nachfrage kein Extremismus-Problem erkennen: "Das sind jetzt besorgte Menschen aus allen politischen Lagern, die für ihre Freiheit auf die Straße gehen. Das finde ich prima." Mit dieser Position ist er nicht allein. AfD-Fraktionschefin Alice Weidel rief ebenso zur Teilnahme auf wie der Bundesvorsitzende Tino Chrupalla: "Das Grundgesetz kennt keinen Mindestabstand", sagte er. "Je mehr AfDler nächsten Samstag nach Berlin kommen, desto besser und hochwertiger wird die Demo", erklärte zudem Bundesvorstandsmitglied Stefan Brandner, der als Maskenverweigerer jüngst einen ganzen Zug zum Stillstand brachte.
Es ist das erste Mal, dass die AfD zu einer großen Corona-Demo aufruft. Der Schritt dürfte die Folge einer taktischen Entscheidung sein. "Björn Höcke hat heute den rhetorischen Schulterschluss mit den Corona-Leugnern vollzogen", sagt Politikberater Johannes Hillje ntv.de. "Es gibt ein Kalkül hinter dieser Solidarisierung: Die AfD hofft auf ein zweites Pegida." Der Corona-Protest sei wie die migrations- und islamfeindlichen Pegida-Versammlungen in Dresden "ein natürlicher Verbündeter" für die AfD, sagt Hillje. "Wir erleben auf diesen Demos die gleichen Anti-Eliten-Narrative, die auch in der AfD üblich sind."
"Es ist kein Zufall, dass die gesamte extreme Rechte bei den Protesten aufspringt", sagt der Protestforscher Simon Teune von der TU Berlin ntv.de. Auch Teune sieht Parallelen in der "Verbreitung der Erzählung, wir würden in einer Diktatur leben oder auf dem Weg dahin sein". Die Ähnlichkeit des Corona-Protests zu Pegida sieht Teune ebenfalls gegeben: "Ähnlich wie auch bei Pegida ist die Überzeugung unter den Teilnehmern verbreitet, dass die Regierung sie belügt und die Medien Teil dieses Komplotts sind."
Planlos und zerstritten
Dennoch hat sich AfD lange schwergetan, einen Umgang mit dem Virus zu finden. "Die AfD ist bisher durch die Pandemie geirrlichtert", stellt Hillje fest und erinnert daran, dass die Partei zu Beginn der Pandemie der Regierung noch vorgeworfen hatte, die Virusgefahr kleinzureden. Der "Zickzackkurs" sei Ausdruck eines anhaltenden innerparteilichen Konflikts. Chrupallas Co-Vorsitzender Jörg Meuthen habe sich bisher zurückgehalten mit Verschwörungserzählungen. Aber: "Das Gewicht im Bundesvorstand kippt meiner Wahrnehmung nach Richtung Schulterschluss mit den Corona-Leugnern und typische populistische Opposition gegen die Regierungslinie", sagt Hillje.
Dass AfD-Wähler, die die Corona-Politik unterstützen, vor den Kopf gestoßen werden, sei nicht zwingend problematisch. "Interessanterweise war das immer ein Erfolgsrezept der AfD: ein produktiver Dualismus von zwei Strömungen." Ebenfalls interessant: Das Lager der Corona-Demo-Trommler in der AfD-Spitze ist in etwa deckungsgleich mit jenem, das den auf Meuthens Betreiben hinausgeworfenen Andreas Kalbitz unterstützt hatte. "Da sieht man, dass der Bundesvorstand nicht mehr mit einer Stimme spricht, er ist im Grunde nicht mehr arbeitsfähig", sagt Hillje.
Neue Wähler für AfD?
Aber kommt die AfD so aus ihrem anhaltenden Umfragetief von knapp unter zehn Prozent? "Unter den Demonstranten befinden sich auch Menschen, die bisher nicht dem AfD-Milieu zuzuordnen waren. Da liegt ein Potenzial auf der Straße für die AfD", sagt Hillje. "Wobei das Wachstumspotenzial der AfD insgesamt begrenzt ist, die Bäume werden für diese Partei nicht mehr in den Himmel wachsen."
Tatsächlich ist es nur schwer einzuschätzen, wie groß das Potenzial für AfD und Rechtsextreme unter den Corona-Politik-Gegnern ist. Sozialforscher Teune räumt ein, dass die Protestbewegung bisher kaum erforscht sei. "Es gibt einen Kern, der für Proteste mobilisierbar ist, aber es ist unklar, wie viele Menschen deren Haltung teilen", sagt Teune. Die Teilnehmer seien sehr durchmischt. Die Corona-Demonstranten alle "als Nazis und Spinner zu bezeichnen, setzt eine gefährliche Dynamik in Gang", warnt Teune. Anstatt abzuschrecken, könne sich ein gegenteiliger Effekt einstellen: "Es bildet sich eine Wagenburg-Mentalität. Am Ende findet man die Neonazis auf der eigenen Demonstration weniger problematisch als diejenigen, die das Tragen der Gesichtsmasken befürworten."
Schwieriger Umgang
Aber auch Teune sieht die Gefahr, dass Gegner der Corona-Politik nach rechts abdriften: "Corona hat dazu geführt, dass Kanäle auf Youtube und Telegram, die solche Verschwörungserzählungen verbreiten, an Zulauf gewonnen haben." Der Youtube-Algorithmus etwa funktioniere so, dass jemand, der einmal ein Video des Arztes Wolfgang Wodarg bis zum Ende geschaut hat, durch Video-Vorschläge immer tiefer in die Welt der Verschwörungserzählungen hineingezogen werde - bis er schließlich beim Holocaust-Leugner Nikolai Nerling ankomme.
Vereinzelt müsse die Politik ihr Vorgehen aber besser erklären. "Die Bundesregierung hat Lücken gelassen", so Teune. "Die Maskenpflicht ist nicht gut kommuniziert worden." Im Gespräch mit Corona-Leugnern dürfe man "nicht ausgrenzend kommunizieren, muss aber klar Grenzen ziehen".
Wie sehr Rechtsradikale von einem Aufschwung durch die Corona-Protestwelle hoffen, zeigt ein Blick in die Texte des rechtsradikalen Höcke-Mentors Götz Kubitschek: "Sich zu versammeln heißt immer auch: zu sehen und zu spüren, dass man ganz und gar nicht allein ist", schreibt er in seinem Blog und fantasiert über die anstehende Reise zur Demonstration in Berlin: "Wer weiß, ob es nicht notwendig werden könnte, die Nacht im Freien zu verbringen und das zu tun, was immer schon ein Traum war: den Protest zu verstetigen."
Quelle: ntv.de
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