Wirecard-Affäre wirft Schatten aufs Kanzleramt

  01 September 2020    Gelesen: 503
Wirecard-Affäre wirft Schatten aufs Kanzleramt

Die Sitzung des Finanzausschusses zur Wirecard-Affäre bleibt weitgehend ergebnislos: Die Geheimdienste wollen nichts gewusst und die Bundesregierung nur Wirtschaftsinteressen vertreten haben. Gerade diese Haltung bestärkt die Opposition, tiefer zu bohren.

Das Bundeskanzleramt hat dem "Handelsblatt" ungewollt eine feine Auszeichnung ans Revers geheftet: Demnach ist das Wirtschaftsblatt im weltweit beachteten Skandal um den Milliardenbetrug des deutschen Finanzdienstleisters Wirecards besser informiert als die deutschen Geheimdienste. Zumindest, was den Verbleib des gesuchten österreichischen Ex-Finanzvorstands Jan Marsalek angeht. Staatsminister Hendrik Hoppenstedt sagt bei seinem heutigen Auftritt im Finanzausschuss des Bundestags, dass weder BND noch ein anderer deutscher Nachrichtendienst etwas über Marsaleks Aufenthaltsort wüssten. Das "Handelsblatt" hingegen hatte schon am Vorabend unter Berufung auf dessen Bekannte berichtet Marsalek befinde sich nahe Moskau - unter dem Schutz des russischen Auslandsgeheimdienstes.

Wirecard ist mehr als ein Skandal um Wirtschaftsbetrug oder eine Affäre um ein mögliches Versagen deutscher Aufsichtsbehörden. Die offenkundig mit ausländischen Geheimdiensten in Kontakt stehende Figur Marsalek, die angebliche Blindheit der deutschen Sicherheitsbehörden für die dubiosen Aktivitäten von Wirecard und Marsalek, die unklaren Beziehungen zwischen Bundeskanzleramt und Wirecard: all das macht den Milliarden-Betrug auch zu einer politischen Affäre. Ein Jahr vor der Bundestagswahl kommt das der Bundesregierung reichlich ungelegen, weshalb auch mit Spannung erwartet wird, ob Grüne, FDP und Linke einen Untersuchungsausschuss durchsetzen. Auf die Stimmen der AfD zur Ausschusseinsetzung wollen FDP und Linke nicht angewiesen sein und hoffen auf die Zustimmung der noch unentschiedenen Grünen.

Ein umtriebiger Ruheständler

Ein möglicher Untersuchungsausschuss würde nicht nur mögliche Fehler der Finanzaufsicht BaFin, die dem Bundesfinanzminister und SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz unterstellt ist, beleuchten. Die Frage wird auch sein, wie schlüssig die bisherigen Äußerungen des Bundeskanzleramts zur Rolle der Geheimdienste und zu Treffen mit deutschen Lobbyisten sind. Eine Person vereint gleich beide Aspekte auf sich: der frühere Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt Klaus-Dieter Fritsche.

Fritsche hatte im September 2019 einen Gesprächstermin mit Wirecard-Vertretern bei Lars-Hendrik Röller arrangiert, dem Wirtschaftsberater von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Fritsche zog sich nämlich seit seinem Anfang 2018 eingeläuteten Ruhestand nicht aufs Altenteil zurück. Vielmehr verdingte er sich als Berater des damaligen österreichischen Innenministers Herbert Kickl. Er sollte dem FPÖ-Politiker bei der Reform des Geheimdienstes BVT helfen. Nach dem Sturz der Regierung über die Ibiza-Affäre war Fritsche für Wirecard tätig und arrangierte im September 2019 ein Treffen beim Wirtschaftsberater von Angela Merkel, Lars-Hendrik Röller. Inzwischen ist Fritsche wieder Berater in Wien, nun aber für ein ÖVP-geführtes Innenministerium.

Immer wieder Österreich: Der in Haft sitzende Wirecard-Gründer Markus Braun - ebenfalls Österreicher - gehörte zum Berater-Team des ÖVP-Kanzlers Sebastian Kurz. Der gebürtige Wiener Marsalek wiederum stand der FPÖ nahe und die der russischen Regierungspartei. Marsalek soll auch Kontakte in das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) gehabt haben. Nun soll er vom russischen Auslandsgeheimdienst beschützt werden.

BND weiß von nichts

Ob dem tatsächlich so ist, ist nicht sicher, aber viele Spuren Marsaleks, die vor allem die "Financial Times", der "Spiegel" und die Rechercheplattformen Bellingcat recherchiert haben, führen nach Russland. Marsalek soll oft mit seinen Kontakten zu Geheimdiensten geprahlt haben. Seine konspirative Lebensführung aber - Dutzende Kurzreisen nach Russland, angebliche Stippvisiten in Syrien und Libyen, das Herumzeigen von Geheimdokumenten zum russischen Gift Nowitschok sowie der Besitz mehrerer Pässe - gingen angeblich an den deutschen Geheimdiensten vorbei.

Das zumindest sagte Staatsminister Hoppenstedt im Ausschuss. Der SPD-Abgeordnete Jens Zimmermann ist skeptisch. "Es hat mich in der Absolutheit gewundert, dass der BND so gar nichts über Wirecard weiß", sagte er nach der Anhörung zu ntv.de. Wobei er ein Hintertürchen für das Kanzleramt erkennt: Schließlich ist Hoppenstedt nicht Geheimdienstkoordinator. Das ist Johannes Geismann und was der weiß, weiß man nicht. Er ist anders als Hoppenstedt, Röller und der für Geheimdienste zuständige Abteilungsleiter Bernhard Kotsch nicht im Finanzausschuss erschienen. Dort habe dann fast nur Hoppenstedt geredet, wodurch es bei den Aussagen zumindest keine Widersprüche gegeben habe, sagte Zimmermann. "Das war alles durch Herrn Hoppenstedt gefiltert", sagt Zimmermann. Er kritisiert den Auftritt der drei Befragten: "Das Kanzleramt hat nicht dazu beigetragen, dass die Spekulationen weniger werden."

Ideen für Spekulationen hat auch Stephan Thomae, der für die FDP im Parlamentarischen Kontrollgremium die Geheimdienste beaufsichtigt. "Ein Zahlungsdienstleister, der auch Geschäfte der Glücksspiel- und Pornobranche aus Nahost und Asien abwickelt, ist eigentlich ein naheliegendes Beobachtungsobjekt für Geheimdienste", sagt Thomae zu ntv.de. "Ich glaube auch nicht, dass man erst so spät auf Marsalek aufmerksam geworden ist." Zumal Berichten zufolge schon 2017 ein Geschäftspartner Marsaleks deutsche Behörden auf Marsaleks Spionage-Geschichten hingewiesen haben soll. Dass der BND solche Hinweise bei einem Finanzvorstands eines Dax-Unternehmens ignoriert haben soll, findet Thomae "eigentümlich".

Eine wilde Theorie

Wenn die Berichte über Marsalek und seine Russland-Kontakte stimmen, wäre er ein hochinteressantes Beobachtungsobjekt für den BND gewesen. Marsalek hatte laut "Financial Times" unter anderem versucht, in Libyen eine private Söldnermiliz aufzubauen. Und es soll Querverbindungen zwischen Marsalek und in Libyen aktiven russischen Söldnern geben. Hinzukommen die Russlandreisen. Davon will der deutsche Geheimdienst trotz Marsaleks Hang zum Prahlen nichts mitbekommen haben. Eine alternative, denkbar skandalöse Erklärung wäre: Die deutschen Geheimdienste wussten zumindest teilweise von Wirecards dubiosen Aktivitäten, ließen das Unternehmen aber aus Interesse am Beobachtungsobjekt gewähren. Ausgeschlossen wird auf den Fluren des Bundestags grundsätzlich fast gar nichts mehr. Denkbar erscheint in diesem Milliarden-Betrugsfall inzwischen fast alles.

Eine Schüsselrolle bei der Aufklärung könnte Fritsche spielen, den Thomae für "nicht ausreichend ausgeleuchtet" hält. Dessen Beratertätigkeit für den für seine Kontakte ins extrem rechte Milieu verrufenen Innenminister Kickl sei vom Kanzleramt genehmigt worden - unter der Auflage, dass er kein Wissen aus seinen mehr als 20 Jahren Leitungsfunktion in den deutschen Geheimdiensten preisgibt. "Wofür sonst aber haben die Österreicher ihn dann so gut entlohnt?", fragt Thomae. Oder gab es andersherum ein deutsches Interesse an Fritsches Wirken in und seinen Informationen aus Österreich? Und wie passt das zu Fritsches Werben für Wirecard bei Kanzlerin-Berater Röller?

Der U-Ausschuss naht

Röller wiegelt im Finanzausschuss ab. Derlei Termine seien nichts Besonderes. "Wenn Sie wüssten, wer hier alles aufschlägt", sagt Röller laut dem SPD-Abgeordneten Zimmermann in einer seiner wenigen Einlassungen. Tatsächlich wirkt es auch nicht ungewöhnlich, dass das Kanzleramt sich mit Vertretern von Dax-Konzernen austauscht und für deutsche Unternehmensinteressen im Ausland wirbt. Nur warum dann diese schmallippigen Äußerungen und Widersprüche?

So stellt das Kanzleramt den Fritsche-Termin als Kennenlern-Treffen dar, obwohl es zu diesem Zeitpunkt schon einen Termin zwischen Merkel und dem Lobbyisten und Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg gegeben hatte. Nach dessen Werben hatte sich Merkel in China für Wirecard stark gemacht. Das Unternehmen war also schon wohlbekannt. Linke-Abgeordneter Fabio di Masi meldet in diesem Zusammenhang Klärungsbedarf an. "Da schrillen bei mir alle Alarmglocken", sagt er nach der Finanzausschusssitzung über Fritsches Aktivitäten.

Di Masi setzt nun auf einen Untersuchungsausschuss. Thomae betrachtet das Beharren der deutschen Geheimdienste auf ihr Nichtwissen "als weiteren Grund für einen Untersuchungsausschuss". Auch die Grünen scheinen einem U-Ausschuss zugeneigt zu sein: Lisa Paus wirft der Bundesregierung "Blauäugigkeit" im Umgang mit Wirecard vor. Die mitregierende SPD-Fraktion ist zögerlich. Zimmermann sagt: "Die Befragung heute zeigte auch, dass Aufklärung auch ohne Ausschuss machbar ist. Wir glauben, dass wir da so gut vorankommen." Die Entscheidung darüber liegt nun bei den Grünen.

Quelle: ntv.de


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