Der Robert Habeck der linken Twitterblase

  10 September 2020    Gelesen: 519
Der Robert Habeck der linken Twitterblase

Vom Quatschkopf zur Medienmarke mit mehr als zwei Millionen Followern: In "Gefolgt von niemandem, dem du folgst" dokumentiert Moderator Jan Böhmermann seinen Aufstieg - und eine Auswahl seiner 25.800 Tweets.

Ab 100.000 Followern kommen die Arschlöcher, schreibt Jan Böhmermann. Ein Witz, natürlich. Denn bei Twitter sind von Anfang an alle da: die Lauten und Wütenden, die Ironischen, alte weiße Männer, Feministinnen.

Zwar wird Twitter nach wie vor von nur wenigen Deutschen genutzt, aber es sind die Wortführerinnen und Wortführer in diesem Land. So sieht es jedenfalls Böhmermann. Seine mit ordentlich Pathos aufgeladene These: Hier lässt sich aus dem digitalen Raum die echte Welt verändern.

Also, Spotlight: Jan Böhmermann. Der ZDF-Moderator und Spotify-Podcaster ist über die Jahre zu einer mächtigen Stimme auf Twitter geworden. Derzeit hat er rund 2,2 Millionen Follower. Dazu etliche Millionen, die seine 280-Zeichen-Gedanken liken, retweeten oder zitieren. Kein Politiker oder Chefredakteur in Deutschland kann da mithalten. Wie ist es dazu gekommen? Und was kann Böhmermann in dieser echten Welt bewegen?

Sein neues Buch "Gefolgt von niemandem, dem du folgst" fühlt ihm da ganz gut den Puls. Böhmermann hat darin eine Auswahl seiner ersten 25.800 Tweets abgedruckt - inklusive Fußnoten für Personen und zeitliche Zusammenhänge. Eine "umfangreiche Kulturgeschichte des vergangenen Jahrzehnts", schreibt sein Verlag selbstbewusst. Nun ja. Es ist die Welt zwischen Januar 2009 und Februar 2020, wie Jan Böhmermann sie wahrnimmt. 

Bis dann wirklich etwas passiert, dauert es jedoch viele Seiten und etliche Tweets. Böhmermann führt gewissermaßen erst die Hauptfigur ein. Einen Volontär von Radio Bremen, der mit einer Lukas-Podolski-Parodie bekannt wurde und als Gag-Autor für Harald Schmidt schreibt. "Hunger!" lautet der erste Tweet von Böhmermann. Dann arbeitet er sich in kurzen Scherzsätzen an Hipstern, "Wetten, dass…?", Kai Diekmann oder Campino ab. Eine gute Stoffsammlung für einen soliden Abreißkalender.

Böhmermann findet schnell einen Zugang zur Echtzeitmaschine Twitter. Er schreibt als dadaistischer Quatschkopf, als Satiriker, dann wieder mit der Stimme des Besserwissers. Seine Rollen wechselt er dabei so rasant, dass er sich damit eigentlich unangreifbar macht. Doch wer behauptet, Böhmermann habe nur das Internet ausgedruckt, der hat etwa hier aufgehört zu lesen.

Denn dann kippt das Buch. Flüchtlingskrise, Silvesternacht in Köln, ein Mob in Clausnitz, Anschlag am Breitscheidplatz, Trump. Es ist die Auswahl der Tweets, die sich nach gut einem Drittel schlagartig ändert. Und es sind die Hasskommentare, die Böhmermann nun wie scharfe Pointen unter seinen Tweets stehen lässt. Twitter, das darf man nie vergessen, ist immer noch ein Ort, an dem ein Satz wie "Nazis raus" zur Diskussion gestellt wird. So als ob es darüber zwei Meinungen gäbe.

In seinem Kurzmitteilungsgewitter werden bestimmte Themen im Buch dringlicher: Rechtsextremismus, Demokratie, Europa. Die Affäre um Böhmermanns Gedicht über den türkischen Staatspräsidenten Tayyip Erdoğan führt zu Hunderttausenden neuen Followern.

Auffällig sind aber nicht die krawalligen Einwürfe. Nach den Terroranschlägen in Paris twittert Böhmermann 100 Fragen ("60. Für welche Überzeugung würde ich sterben?"). Er schreibt öffentlich Bundespolitiker nach der Inhaftierung von Deniz Yücel an. Für Sea-Watch sammelt er gemeinsam mit Kollege Klaas Heufer-Umlauf eine Million Euro Spendengelder und er gründet eine Bürgerrechtsbewegung, die sich volksverhetzenden Netzaktivisten entgegenstellen soll.

Mit seiner Reichweite ist Böhmermann eine eigene Medienmacht geworden. Er sortiert die Nachrichtenlage, er erfüllt den Wunsch nach Einordnung. Und er gibt vielen das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Gefolgt von jedem, dem du folgst. Mag ihn ein rechter Rand noch so sehr als öffentlich-rechtliche Hassfigur verteufeln. Böhmermann ist auf seine Weise eine Art Robert Habeck der linken Twitter-Bubble geworden. Tatsächlich zeigt das Buch vor allem, wie sehr der "digitale Raum" und die "echte Welt" ineinanderfließen.

Das alles funktioniert auch deshalb gut, weil er so starke Reaktionen auslöst, weil sein Publikum parasoziale Beziehungen zum twitternden Böhmermann aufgebaut hat. Journalisten wollen mit ihm abkumpeln, Politikerinnen möchten ihm Paroli bieten. Prominente antworten gern ungefragt auf seine Tweets - und Böhmermann lässt sie wiederum gern bei sich auftauchen.

Die größere Herausforderung wäre es jedoch gewesen, wenn Böhmermann wirklich ein Buch geschrieben hätte. Keine Performance-Literatur, bei der die Idee über dem Inhalt steht. Gerade bei Böhmermann, der oft betont, hinter den Kulissen als Schreiber an seiner Kunst zu arbeiten. Hier hätte er aber etwas zu verlieren gehabt.

Die Medienmarke Böhmermann auf Twitter in seiner Wechselbeziehung zur Welt, das wäre ein interessanter Blick. Aber das müsste jemand anders machen. Stattdessen schreibt Böhmermann über Böhmermann und bastelt sich letztlich seinen eigenen "Bravo"-Starschnitt. So ist es weniger ein Blick auf die Gesellschaft geworden, wie er es selbst vielleicht gern hätte, sondern mehr ein Fanbuch, kuratiert vom Künstler persönlich.

"Herrgott, ich schreibe doch bloß auf, was passiert", paraphrasiert Böhmermann an einer Stelle in bester SPIEGEL-Manier. Überprüfen lässt sich das alles nicht mehr. Kurz vor dem Erscheinen des Buchs hat er alle seine 25.800 Tweets gelöscht.

spiegel


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