Gerade füllt Sunil Kumar auf seinem Computer ein Onlineformular für Kalavati aus, eine ältere Frau aus einem benachbarten Dorf. Es geht um ihren Anspruch auf eine staatliche Rente. Vom selben Bildschirm aus könnte Kalavati auch einen Berechtigungsschein für subventionierte Lebensmittelrationen beantragen oder einen Pass. Mühsame Ämterbesuche entfallen – und das bedeutet auch: Niemand kann Schmiergelder verlangen. Für Indiens Bürger, die von vielen Beamten mit autoritärem Gehabe und erpresserischen Bestechungsforderungen schikaniert werden, wäre eine schnelle und saubere staatliche Verwaltung mithilfe des Internets in der Tat eine Revolution.
Indien und das Internet: Das ist auf der einen Seite die IT-Metropole Bangalore, eine Art asiatisches Silicon Valley mit international erfolgreichen Softwarefirmen wie Infosys. Auf der anderen Seite: viele Hundert Millionen Arme, die um ihr tägliches Überleben kämpfen und andere Sorgen haben als einen Zugang zum Internet. Das Indien dazwischen zeigt sich in Sunil Kumars Cybercafé. Ein Land, in dem sich das Internet rapide ausbreitet und vielfältig mit der Nutzung experimentiert wird, ein digitales "Entwicklungsland" im wörtlichen, doppelten Sinne: weit zurück im Vergleich zum Westen oder auch zu China und zugleich mit dramatischem Wachstum.
Kumars Cybercafé ist ein sogenanntes Common Service Centre, kurz CSC. Die CSCs sind Teil eines ambitionierten Großprojekts der indischen Regierung, mit dem die Digitalisierung des Landes vorangetrieben und öffentliche Dienstleistungen zunehmend über das Internet abgewickelt werden sollen. Die CSCs sind halb Staat, halb Business, betrieben nicht von Beamten, sondern von kleinen Geschäftsleuten, die dafür eine Zusatzlizenz erworben haben.
In den CSCs kann man seine Steuernummer zugeteilt bekommen, eine Versicherung für sein Vieh abschließen oder einen Englischkurs buchen. Einige bieten Telemedizin an: Mit einem Untersuchungsgerät werden Aufnahmen vom Augeninnern gemacht, und die Ärzte in einem Krankenhaus in Delhi oder einer anderen Metropole stellen nach den Bildern eine provisorische Diagnose. Manche der CSCs sind winzig, nicht mehr als eine Nebenbeschäftigung des Ladenbesitzers, bei dem man sonst sein Mobiltelefon auflädt. In anderen dagegen ist viel los, so wie bei Sunil Kumar. Im Vorraum des Büros, in dem er mit einem Kollegen zusammen seine Kunden bedient, stehen, dicht gedrängt, mehr als ein Dutzend Leute, die Schlange reicht bis auf die Straße hinaus.
Dort, wo es noch kein Internet gibt, will Facebook ein kostenfreies Angebot machen
Auch wegen der Common Service Centre konnte Telekommunikationsminister Ravi Shankar Prasad vor Kurzem verkünden, dass nun gut 400 Millionen Inder Zugang zum Internet hätten, noch in diesem Jahr sollen es mehr als 500 Millionen werden.
Indiens Politik will ein Internet für alle – aber nicht um jeden Preis. Das zeigte kürzlich die Entscheidung der indischen Telekom-Regulierungsbehörde (Trai), Free Basics zu verbieten. Eine Auswahl von Webseiten und Apps, die jenen Smartphone-Nutzern kostenlos zugänglich gemacht werden, die bisher nicht übers Mobiltelefon surfen. Hinter Free Basics steht der amerikanische Internetkonzern Facebook, inzwischen gibt es das Angebot weltweit in mehr als 30 Ländern, unter anderem in Angola, Thailand, Bangladesch. In Indien wollte Facebook Free Basics zusammen mit einem heimischen Telekom-Unternehmen anbieten, es sollten zum Beispiel die Online-Enzyklopädie Wikipedia abrufbar sein, Nachrichten der BBC und ausgewählte Gesundheitswebseiten. Doch nach Auffassung der Regulierungsbehörde hätte Facebook damit gegen das Prinzip der "Netzneutralität" verstoßen. Netzneutralität bedeutet, dass alle Angebote gleich behandelt werden. Keines wird bevorzugt durchgeleitet, die Übertragungsgeschwindigkeit richtet sich nicht nach Inhalt und Absender der Daten.
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