Wie Großbritannien an Bedeutung verliert

  13 Oktober 2020    Gelesen: 454
  Wie Großbritannien an Bedeutung verliert

Noch feilschen Briten und EU über ihre künftigen Beziehungen, aber deutsche Firmen spüren den Brexit längst. Der Markt auf der Insel wird für sie weniger wichtig - mit einigen Ausnahmen.

Wann kommt er nun eigentlich, dieser Brexit? Das mag sich fragen, wer die Verhandlungen über den Austritt von Großbritannien aus der Europäischen Union nicht allzu eng verfolgt. Zwar ist das Vereinigte Königreich bereits Ende Januar offiziell aus der EU ausgeschieden. Doch noch bis Jahresende gilt eine Übergangsphase, während der beide Seiten über ihre künftigen Beziehungen verhandeln - und immer noch viele Fragen offen sind.

In der deutschen Wirtschaft hingegen sorgt das Brexit-Referendum vom Juni 2016 längst für Tatsachen. Die Umsätze und Exporte deutscher Unternehmen auf der Insel sind seitdem in den meisten Branchen rückläufig, die Einbußen zum Teil deutlich. Das zeigt eine Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte, die am Dienstag veröffentlicht wird. Sie untersuchte insgesamt 190 Unternehmen mit Hauptsitz in Deutschland, die bei britischen Tochtergesellschaften mindestens hundert Mitarbeiter beschäftigen.

Die wirtschaftliche Verbundenheit ist demnach immer noch groß. Die untersuchten Firmen beschäftigen rund 375.000 Mitarbeiter im Vereinigten Königreich und verdienen dort im Schnitt jeden vierzehnten Euro. Allein die Autoindustrie macht fast 50 Milliarden Umsatz, auch für die deutsche Finanzbranche und den Verkehrs- und Logistiksektor bleibt die Insel ein wichtiger Markt.

Deutsch-britische Freundschaft
Umsatz- und Exportanteile deutscher Branchen in Großbritannien (Größe der Kreise = in UK generierter Umsatz). Je größer, weiter rechts und oben platziert ein Kreis ist, umso wichtiger ist der britische Markt.

Doch 2015, im letzten Jahr vor dem Referendum, verdienten die Firmen noch jeden elften Euro in Großbritannien. Seitdem sind die Umsätze im Schnitt um zwölf Prozent gefallen. Am stärksten war der Rückgang bei Banken und Versicherungen, für die der Finanzplatz London bislang große Bedeutung hatte.

Die Exporte nach Großbritannien schrumpften im Schnitt um sechs Prozent, in der Autobranche brachen sie sogar um ein Viertel ein. Zum Vergleich: Insgesamt stiegen die deutschen Exporte im selben Zeitraum um elf Prozent.

Gegen den Trend entwickelte sich allein der Groß- und Einzelhandel, dessen Umsätze um fast drei Milliarden Euro zulegten. "Das liegt zum einen an Discountern, die auch von der Unsicherheit profitieren", sagt Alexander Börsch, Chefökonom bei Deloitte. Aldi und Lidl haben ihren Marktanteil deutlich gesteigert - auch weil die Briten angesichts des Brexits steigende Lebensmittelpreise fürchten. Zum anderen konnten Börsch zufolge auch Onlinehändler ihre Geschäfte in Großbritannien ausbauen.

Die meisten untersuchten Branchen aber verdienen auf dem britischen Markt weniger als noch vor wenigen Jahren. Das liegt primär am Wechselkurs des Pfund, das seit dem Austrittsreferendum gegenüber dem Euro um rund 15 Prozent gefallen ist. Die Güterexporte seien quasi "im Tandem mit dem Pfundkurs" gesunken, sagt Börsch.

Von einer Flucht deutscher Unternehmen kann bislang aber keine Rede sein, denn die Zahl der vor Ort Beschäftigten blieb gegenüber 2015 konstant. Das dürfte auch an der immer noch großen Unsicherheit über die künftigen Handelsbeziehungen liegen. "Die Firmen wissen nicht genau, wie die Welt 2021 aussieht. Deshalb schiebt man die strategischen Entscheidungen auf", vermutet Börsch. Vorerst gelte: "Die Verbindungen werden nicht gekappt."

Die sinkenden Umsätze und Exporte sorgten aber schon jetzt dafür, dass das Großbritannien-Geschäft für viele Unternehmen weniger wichtig wird. Der Anteil der dortigen Umsätze am Gesamtgeschäft sank von 9,1 auf 7,3 Prozent. "Wir sehen einen relativen Bedeutungsverlust", sagt Börsch. Besonders stark ist der Rückgang in der Verkehrs- und Logistikbranche, die nach dem Brexit chaotische Zustände am Hafen von Dover und anderen Nadelöhren fürchtet.

Zwischen vielen Rückgängen findet sich in den deutsch-britischen Handelsbeziehungen auch ein deutliches Pluszeichen: Im Gegensatz zu den Warenausfuhren (minus zwölf Prozent) haben die Dienstleistungen um zehn Prozent zugelegt. Dahinter steckt der Studie zufolge ein genereller Trend im Welthandel hin zu mehr digitalen Dienstleistungen.

"Die Frage ist allerdings, ob das so weitergehen kann", sagt Börsch. Sollte es zu einem harten Brexit ohne Abkommen kommen, würden für Warenexporte zumindest die Regeln der Welthandelsorganisation gelten. Verbindliche Vorgaben für den Dienstleistungssektor gibt es hingegen nicht. Die Briten müsste das wesentlich stärker beunruhigen als die Deutschen: Während Dienstleistungen nur 17 Prozent der deutschen Exporte ausmachen, sind es in Großbritannien fast 45 Prozent.

spiegel


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