Dieser Mann erklärt Boris Johnson, was Hunger bedeutet

  16 November 2020    Gelesen: 488
Dieser Mann erklärt Boris Johnson, was Hunger bedeutet

In der Pandemie avancierte der Fußballer Marcus Rashford zum Star jenseits des Platzes. Seine Kampagne gegen Kinderarmut bewegt England – und veranlasste die Regierung Johnson schon zweimal zur Kehrtwende.

Als das Telefon von Marcus Rashford am vergangenen Wochenende nach dem Spiel gegen Liverpool klingelte, war Premierminister Boris Johnson dran. Sie hätten ein "gutes Gespräch" geführt, sagte der Fußballer anschließend - was eine Untertreibung sein dürfte.

Als "absolut unglaublich" bezeichnete Liverpool-Trainer Jürgen Klopp die Leistung des 23-jährigen Stürmers, der bei Manchester United unter Vertrag steht und in der englischen Nationalmannschaft spielt. Klopp meinte in dem Fall allerdings Rashfords Errungenschaften außerhalb des Platzes.

Zum zweiten Mal seit Beginn der Corona-Pandemie lenkte die britische Regierung in der vergangenen Woche ein und reagierte mit Hilfen in Millionenhöhe auf eine Kampagne des Spielers. Rashford setzt sich für eine Essensversorgung der ärmsten englischen Schulkinder während der Krise ein, startete eine Petition und schrieb einen Brief an alle Abgeordneten. Fast 1,7 Millionen Kinder sollten demnach in der Pandemie auch während der Ferien in ihren Schulen verpflegt werden. Die Regierung willigte nun ein, mit einem Hilfsprogramm über 170  Millionen Pfund (etwa 189 Mio. Euro) bis März die bedürftigsten Familien zu unterstützen.

Dem Entschluss vorausgegangen war ein Schlagabtausch zwischen Manchesters Nummer 10 und der Regierung in Londons 10, Downing Street. Ein Tory-Abgeordneter hatte befürchtet, mehr kostenlose Schulmahlzeiten würden die Verantwortung der Eltern für ihre Kinder auf den Staat übertragen. Ein anderer hatte erklärt, die Mehrkosten könnten der Währung schaden und wenn die Wirtschaft und das Pfund ruiniert seien, ginge es den Armen erst recht schlecht.

Rashford antwortete auf Twitter: "Die Wirtschaft zahlt schon einen hohen Preis für hungernde Kinder. Wenn Kinder richtig ernährt würden, würden ihre Lernerfolge und ihre Chancen im Leben insgesamt verbessert." Er berief sich auf eine ältere Studie des Zerealien-Herstellers Kellogg’s, laut der der englischen Wirtschaft pro Jahr 5,2 Millionen Pfund (etwa 5,8 Mio. Euro) entgehen, weil sich Lehrer um hungrige Kinder kümmern, statt sie zu unterrichten. Er selbst hatte in einem BBC-Interview erzählt, dass er oft hungrig gewesen sei, "in einer Zeit, in der ein Kind sich auf die Schule konzentrieren sollte."

Rashford selbst wuchs in Armut mit vier Geschwistern bei seiner alleinerziehenden Mutter auf. Nicht immer habe es Essen gegeben, erzählte er in einem Videointerview der BBC, vieles sei rationiert gewesen. Dass er mit elf Jahren – jünger als vorgesehen – in ein Fußball-Förderprogramm gekommen sei und dort regelmäßige Verpflegung erhalten habe, habe sein Leben verändert. "Ich möchte nicht, dass irgendein Kind das durchmachen muss, was ich durchgemacht habe und keine Eltern das, was meine Mutter erlebt hat."Die oppositionelle Labour-Partei unterstütze Rashfords Anliegen und brachte im Oktober einen Entwurf für kostenlose Schulmahlzeiten ins Parlament ein, dieser wurde jedoch abgelehnt. Doch auch Teile der regierenden Tories wollten den "hartherzigen" Kurs des Premiers nicht weiter mitgehen. Eine konservative Abgeordnete trat wegen Gewissensbissen von ihrem Auftrag als parlamentarische Sekretärin zurück, mehrere enthielten sich bei der Abstimmung, was bereits als kleine Revolte gilt. Ein Tory-Abgeordneter sprach gegenüber dem britischen "Guardian" von einem "politischen Desaster" bei der Handhabe und sagte, er habe "noch nie so viele konservative Abgeordnete so wütend" erlebt. Ein Regierungssprecher begründete hingegen den Kurs mit den Worten: "Es ist keine Aufgabe der Schulen, während der Ferien Mahlzeiten für die Schüler anzubieten."

Doch Rashford erhielt ausreichende Unterstützung: Der BBC-Sportmoderator und Ex-Fußballer Gary Lineker etwa setzte sich über Vorgaben zur Unparteilichkeit hinweg und twitterte nach der Ablehnung des Vorhabens durch das Parlament: "Gestern haben sie dagegen gestimmt, unsere hungrigsten Kinder während der Pandemie zu ernähren." Nach landesweitem Protest von Kinderärzten, britischen Stars und über einer halben Million Unterschriften für Rashfords Petition änderte die Regierung schließlich ihren Kurs und bewilligte die 170 Millionen.

Und dies war nicht das erste Mal: Schon im Juni hatte der Premier unter dem Druck der Öffentlichkeit eingelenkt. Damals ging es um ein Versorgungsprogramm, um Schulkinder ohne Hunger durch den Sommer zu bringen. Die Regierung bewilligte nach anfänglicher Ablehnung Essensgutscheine im Wert von 15 Pfund (etwa 17 Euro) pro Woche für bedürftige Kinder, schloss jedoch aus, das Programm auf künftige Ferien auszuweiten. Diesen Entschluss hat sie nun revidiert, das zugesagte Hilfspaket soll neben den Herbst und Weihnachtsferien selbst die nächsten Osterferien abdecken.

Schon damals hatte der Premier Rashford angerufen. "Wir haben uns beide beieinander bedankt", sagte dieser anschließend. "Denn weder musste er tun, was er getan hat, noch musste ich es." Auch Queen Elizabeth II. dankte dem Fußballer und nahm ihn für sein Engagement in den Order of the British Empire auf, eine der höchsten Auszeichnungen im Königreich. Bleibt abzuwarten, wie oft der Premier sich noch Inspiration bei Rashford holen wird, damit die Kleinen unter den Ärmsten in der Pandemie nicht hungern.

spiegel




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