Es läuft nicht gut zwischen England und den anderen drei Teilen des Vereinigten Königreichs. »Wir müssen uns um die Einheit des Landes sorgen«, warnte jüngst der ehemalige Premierminister Gordon Brown. Glaubt man ihm und führenden Politikern in Schottland, Wales und Nordirland, sind allerdings nicht der Brexit und Corona die größten Gefahren für die Einheit der Union – sondern aktuell sein Nachfolger, Premier Boris Johnson. Dessen »England first«-Politik gebe mehr als alles andere denjenigen Auftrieb, die eine Loslösung von London anstrebten, so die Einschätzung.
Zuletzt vergriff Johnson sich stark im Ton, als er über die »Devolution« sprach – das britische System der Dezentralisierung, das das Zusammenspiel der vier Landesteile regelt. Ende der Neunzigerjahre gründeten Schottland, Wales und Nordirland dazu eigene Parlamente, eingeleitet wurde der Prozess durch den damaligen Labour-Premierminister Tony Blair. Der Machttransfer sei »Blairs größter Fehler« gewesen, ließ Johnson sich nun per Video vor rund 60 Tory-Abgeordneten aus. Den Vier-Länder-Konsens nannte er ein »Desaster nördlich der Grenze«.
Johnsons Aussage kam – wenig überraschend – nördlich der genannten Grenze nicht gut an.
Schottlands erste Ministerin Nicola Sturgeon von der Scottish National Party (SNP) twitterte umgehend, die Tories hätten ihre Glaubwürdigkeit in Sachen Machtteilung verspielt. Der einzige Weg, das Parlament in Edinburgh zu schützen, sei die Unabhängigkeit.
In Wales kommentierte die dortige Labour-Regierung, Johnsons Äußerung zeige ein weiteres Mal, dass London »nicht im Entferntesten daran interessiert« sei, die Machtverteilung innerhalb des Königreichs zu respektieren. »Die Kommentare des Premierministers sind schockierend, aber traurigerweise nicht überraschend«, sagte der walisische Generalanwalt.
Doch auch ohne Johnsons Desaster-Statements ist es um den Zusammenhalt des Königreichs nicht gut bestellt. Der Brexit gibt seit Jahren denjenigen Kräften Auftrieb, die die Absonderung vom Königreich fordern, um die EU nicht verlassen zu müssen. Schotten und Nordiren hatten 2016 mehrheitlich gegen den Austritt gestimmt, und auch in Wales war die Zustimmung geringer als in England.
Schottlands oberste Ministerin Sturgeon fordert unter anderem deshalb ein schottisches Unabhängigkeitsreferendum – das London ihr aus begründeter Angst bislang verwehrt. In Nordirland, dass durch seine Landgrenze zur EU-Republik Irland am unmittelbarsten vom Brexit betroffen ist, fordert die republikanische Sinn Féin die Loslösung von Großbritannien und die Orientierung zu Irland und somit zu den Europäern.
Mit seinem hochumstrittenen Binnenmarktgesetz will Johnson die Wogen in der Nordirland-Frage glätten – und unter anderem höhere Subventionen dortiger Unternehmen ermöglichen. In den anderen Teilen des Königreichs erreichte er damit allerdings genau das Gegenteil von Befriedung. Die walisische Regierung verurteilte den Plan für einen britischen Binnenmarkt nach dem Brexit als »eine Attacke auf die Demokratie und einen Affront gegen die Bevölkerung von Wales, Schottland und Irland«.
Das Gesetz sieht vor, dass die Landesteile zwar ihre eigenen Märkte regulieren können, gleichzeitig aber Güter und Dienstleistungen aus den anderen britischen Landesteilen akzeptieren müssen. Allein schon wegen seiner Größe und Marktmacht würde dann de facto England die Regeln für den gemeinsamen Markt bestimmen. Regeln und Gelder, die einst aus Brüssel kamen, würden somit aus London vergeben. Schottlands Ministerin Sturgeon kündigte an, dagegen sprichwörtlich »mit Zähnen und Fingernägeln« kämpfen zu wollen.
Neben alledem leidet der Zusammenhalt der Briten unter Johnsons Corona-Management. Wo die verschiedenen Regierungen eigentlich koordiniert und kooperativ vorgehen müssten, offenbarte sich in den vergangenen Monaten eklatante Misskommunikation. Die obersten Minister von Wales und Schottland attackierten Johnson unter anderem dafür, sich nicht mit ihnen über einen neuen landesweiten Lockdown abgesprochen zu haben. Schottlands Ministerin Sturgeon hatte Johnsons Kurs gegen das Virus zuvor als unzureichend kritisiert und zeitweise strengere Regeln in Schottland durchgesetzt.
In Schottland finden im kommenden Jahr Wahlen statt. Nicola Sturgeons SNP, die eine Loslösung vom Königreich fordert, kommt mittlerweile auf eine Zustimmung von 58 Prozent – was dem Ruf nach einem neuen Unabhängigkeitsreferendum Gewicht verleihen wird. Seinen eigenen Tories macht Johnson es hingegen nicht einfach, in Edinburgh Stimmen zu gewinnen.
In Wales ist, sollte die Frage nach der Union den Wählern wichtiger werden, eine politische Abwanderung zu erwarten: von der regierenden Labourpartei zu den Tories einerseits, die prinzipiell eine enge Einbindung in das Königreich befürworten, und zur walisisch-nationalen Plaid Cymru andererseits. Deren Chef Adam Price verlautbarte kürzlich, Wales' »größter Fehler« sei, dass es das Königreich nicht bereits verlassen habe. Die Labourpartei, die traditionell in Cardiff regiert und vor 20 Jahren den Machttransfer mit der »Devolution« vorangetrieben hat, wird dabei wohl zunehmend leer ausgehen.
Nordirland begeht im kommenden Jahr seine 100-jährige Abspaltung von der Republik Irland. Während die Republikaner von Sinn Féin darin ohnehin keinen Anlass zur Freude sehen, haben auch die regierenden Unionisten wenig Anlass zum Feiern. Denn die nach wie vor ungeklärte Sandwichposition zwischen Königreich und EU durch den Brexit könnte den Landesteil zunehmend vom Königreich entfremden: zuerst ökonomisch und folglich politisch.
Mittlerweile jedenfalls sehen es Politiker von London über Edinburgh und Cardiff bis Belfast wie der besorgte Ex-Premier Gordon Brown: Weder der Brexit noch Corona und erst recht nicht die Dezentralisierung sind die wahre Gefahr für die Einheit des Königreichs – der Premierminister ist es.
spiegel
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