Die Odyssee der MS »Main 68«

  29 Dezember 2020    Gelesen: 437
Die Odyssee der MS »Main 68«

Um ihre Bestände zu retten, fassten Düsseldorfer Archivare 1944 einen riskanten Plan: Sie versuchten, 25 Tonnen kostbarer Dokumente zu einem sicheren Bergwerk zu lotsen – per Schiff quer durch den Bombenhagel.

Am 27. Dezember 1944 verließ ein kleines Schiff mit außergewöhnlicher Fracht den Düsseldorfer Hafen. Im Laderaum des Motorschiffs »Main 68« lagen Akten, Pergamente, Schriftgut aus mehreren Jahrhunderten. Die ältesten Stücke stammten aus dem Mittelalter.

Mitten in der mörderischen Endphase des Zweiten Weltkrieges sollte dieser Kahn 2540 Aktenpakete und 60 Säcke voller Schriftgut retten und in halbwegs sichere, unterirdische Stollen bringen – insgesamt 25 Tonnen Geschichte. Es war der Beginn einer riskanten Mission, die in eine monatelange Odyssee quer durch das NS-Reich mündete.

1933 schlummerten die Akten der »MS Main 68« noch im preußischen Staatsarchiv Düsseldorf. Das deutsche Archivwesen erlebte gerade einen Aufschwung, befeuert durch die Ideologie der Nationalsozialisten. Von einer »Bereinigung« westlicher Kultur war die Rede. Ernst Zipfel, Generaldirektor der preußischen Staatsarchive, wähnte die Archive Polens bereits als »historisch abgeschlossen«; dahinter stand die Vorstellung, mit den deutschen Eroberungen sei die Geschichte Osteuropas im Grunde vollendet.

Wohin mit all den wertvollen Urkunden?
Entsprechend verhielten sich manche Archivare in den ab 1938 vom NS-Staat besetzten Gebieten wie Raubritter. Auch zwischen den Akten auf der »Main 68« verbargen sich Dokumente, die der NS-Staat zuvor aus Belgien erbeutet und ins Reich geschafft hatte.

Um die Sicherheit der eigenen Bestände im Kriegsfalle sorgten sich die deutschen Archivare zunächst nicht. Erst im März 1939 fragte sich Generaldirektor Zipfel, ob nicht »auserlesene« Stücke evakuiert werden sollten. Der Zweite Weltkrieg begann knapp ein halbes Jahr darauf mit dem deutschen Überfall auf Polen, der Bombenkrieg, die vernichtenden Feuerstürme standen noch bevor.

Immerhin verlagerten manche Archive bald besondere Dokumente in Banktresore. Eine oft trügerische Sicherheit: So gelangten zum Beispiel uralte Papyri der Universitätsbibliothek Gießen in ein Schließfach der Dresdener Bank, wo sie 1945 durch Grundwassereinbrüche schwer beschädigt wurden. Düsseldorfer Urkunden aus dem 12. Jahrhundert wurden in die mächtige Festung Ehrenbreitstein gegenüber der Moselmündung in Koblenz verlagert. Doch auch die Rechnung, dass eine strategisch unbedeutende Burg im Krieg verschont werden würde, sollte nicht aufgehen.

Und dieser Krieg kam rasch, auch für das Düsseldorfer Staatsarchiv. 1940 wurden sieben Mitarbeiter eingezogen, Archivleiter Bernhard Vollmer wurde abkommandiert. Die Beamten Wilhelm Classen und Friedrich Wilhelm Oediger hielten den Betrieb mit ein paar Angestellten am Laufen.
Die alliierten Luftangriffe auf die deutschen Innenstädte ab Frühjahr 1942 verschärften die Lage, denn in den Stadtzentren befanden sich die meisten Archive. Daher schrieb Ernst Zipfel am 1. Mai 1942, die Archive seien »nunmehr doch« gezwungen, »ihre wertvollen Bestände in stärkerem Maße als bisher auseinanderzuziehen«. Keine zwei Wochen später wurden die ersten Archivalien abtransportiert; den ganzen Sommer über rollten Lastkraftwagen und Güterwaggons zu Lagern auf dem vermeintlich sicheren Land.

Ende 1942 war das oberste Geschoss des Düsseldorfer Archivs schon ausgeräumt. Danach wurde das Haus befestigt. Eine 25 Zentimeter dicke Sandschicht auf dem Dachboden sollte Bombeneinschläge mildern, ein Löschwasserbecken wurde installiert, man vermauerte Fenster und Türen im Erdgeschoss. Bald darauf auch wurden Classen und Oediger eingezogen. Die Stellvertretung übernahm Staatsarchivrat Otto Korn.

Archivare wurden zu Luftschutzwächtern
Als der Luftkrieg Düsseldorf erreichte, trafen Minen und Sprengbomben bei einem Großangriff im Juni 1943 auch das Staatsarchiv. Brände im Gebäude konnten zwar gelöscht werden, aber einige Archivare erlitten Verbrennungen und schwere Augenentzündungen durch den Phosphorqualm.

Aus Archivmitarbeitern wurde überall in Deutschland Luftschutzwächter. Schon im März 1943 war ein britischer Flieger vor das Staatsarchiv in Nürnberg gestürzt, während zeitgleich eine Bombe in das Beständehaus einschlug. Und Anfang Oktober wurde das Staatsarchiv in Hannover völlig zerstört.

Den Glauben an den »Endsieg« verloren viele NS-Funktionäre dennoch nicht. So verweigerten der Gauleiter in Breslau und der Reichsverteidigungskommissar die Auslagerung des örtlichen Staatsarchivs, obwohl die Front bereits näherkam. Ein Rückzug schien ihnen »defätistisch«. Auch Ernst Zipfel reagierte mit Durchhalteparolen und sprach vom »Kampf um die Erhaltung des Traditionsgutes des deutschen Volkes«.

Letzte Rettung Bergstollen
Otto Korn koordinierte derweil den Abtransport der verbliebenen Düsseldorfer Bestände. Im Sommer 1944 wurde klar, dass die bisherigen Ausweichlager nicht mehr sicher waren. Alliierte Bodentruppen nahten, Bomben trafen auch die Festung Ehrenbreitstein. Archivbestände wurden fortan unterirdisch in Stollen von Salz- und Kalibergwerken gesichert. Der Platz war knapp – Gemälde lagerten dort mitunter neben Waffen und Munition.

Die Archivtransporte verzögerten sich, weil es an Treibstoff fehlte, Gleise zerbombt waren und in der Hektik Fehler passierten. So flatterten Akten des Marburger Staatsarchivs 1944 von einem Laster, als ein Kistendeckel sich löste. Erst drei Monate später wurden sie am Straßenrand gefunden.

Etwa zur gleichen Zeit begann auch die Odyssee der Düsseldorfer Akten. Der zurückgekehrte Archivleiter Bernhard Vollmer wollte einen Großteil davon im Salzbergwerk Grasleben südöstlich von Wolfsburg sichern und suchte wegen der massiven alliierten Luftschläge auf Bahnhöfe und Gleise Alternativen zum Zugtransport. Also entschied er sich für eine andere, ebenfalls riskante Taktik: den Transport per Schiff.

Die erste Irrfahrt
Das hatte bis dato nur das Geheime Staatsarchiv in Berlin gewagt. Doch für das Schiff sprach allein die schiere Menge an Dokumenten, die es transportieren konnte. Umsichtig verteilten die Düsseldorfer Archivare ihre wertvolle Fracht auf zwei Kähne. So wäre nicht alles verloren, wenn einer von beiden sank.

Der erste Transport mit dem Motorschiff »Rhenus 39«, das Zwangsarbeiter hatten beladen müssen, brauchte fast vier Monate. Kanalsperrungen und Eisgang erschwerten die Fahrt, Eisenbahnwaggons zum Be- und Entladen fehlten. Nachdem die 15 Tonnen Archivgut der »Rhenus 39« endlich das Bergwerk Grasleben erreicht hatten, entschied man sich trotz aller Schwierigkeiten für eine zweite, noch umfangreichere Fahrt – die der »Main 68«.

Das Schiff sollte seine Fracht bis zum Hafen Haldersleben fahren, unweit vom Bergwerk Grasleben. Das letzte Stück vom Hafen in den Stollen sollte mit Waggons überbrückt werden.

Es ging schon schlecht los. Der Mittellandkanal war bei Angriffen schwer beschädigt und danach gesperrt worden. Die »Main 68« bekam keine Freigabe für diesen Abschnitt und musste in den Dortmund-Ems-Kanal ausweichen. Über den Küstenkanal ging es weiter nach Bremen. Der Kahn mit seinen Schätzen passierte die Hansestadt am 7. März 1945 und fuhr die Weser aufwärts. Am 12. März erreichte das Schiff einen weiteren Zwischenstopp, den Hafen Hannover-Linden. 

spiegel


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