ntv.de: Joe Cullen spielt gegen Michael van Gerwen erst sechs Sätze und vier Legs die vermutlich besten Darts seines Lebens, um dann einen historisch schlechten Knockout zu erleben. Gabriel Clemens erleidet nach seinem Wunder gegen Weltmeister Peter Wright eine bizarre Matchdart-Tragödie und Mitfavorit Dimitri Van den Bergh spielt furios, verliert aber trotzdem. Was ist das für eine WM? Eine zum Leiden, eine zum Feiern oder einfach nur eine zum Staunen?
Kevin Schulte: Diese WM hat tatsächlich von allem reichlich. Was mich aber vor allem überrascht ist, wie hochklassig es bei diesem Turnier zugeht. Das fällt mir ganz besonders auf, weil ja keine Zuschauer zugelassen sind. Diese außergewöhnliche Atmosphäre nimmt sonst sehr viel Aufmerksamkeit ein, jetzt dominiert allein der Sport. Und das auch, weil wir so unfassbar viele dramatische Spiele haben. Wie eben die angesprochenen von Cullen gegen Michael van Gerwen oder die Niederlage von Gabriel Clemens gegen Krzysztof Ratajski. Es ist alles so unfassbar eng. Es hilft dir eigentlich gar nichts mehr, wenn du in der Rangliste 20 Plätze vor deinem Kontrahenten stehst. Diese WM ist auf faszinierende Weise bizarr, es macht unglaublich viel Spaß.
Kommt diese Entwicklung für dich überraschend, oder hast du über das Jahr bereits erahnen können, dass es bei der WM zu so vielen engen Duellen bis ins letzte Leg hinein kommen könnte?
Das ist definitiv eine Entwicklung, die sich über das Jahr gesehen schon angebahnt hat, gerade nach dem ersten Lockdown im Frühjahr. Da gewinnt dann Dimitri Van den Bergh völlig überraschend das World Matchplay und steigt zum absoluten Weltklassespieler auf. Oder Dirk van Duijvenbode, der im Oktober sensationell das Finale beim Grand Prix spielt. Und dann ist da natürlich noch José de Sousa, der unmittelbar vor der WM den Grand Slam gewinnt. Dementsprechend war klar, dass die Darts-Weltspitze viel breiter wird, dass viel mehr Spieler Turniere gewinnen können. Vor allem auch Spieler, die in der breiten Öffentlichkeit eben weniger bekannt sind. Und so ist es jetzt nicht überraschend, dass ein Peter Wright gegen Clemens ausscheidet. Das ist eine Entwicklung, die sich angebahnt hat, das würde ich schon so sagen.
Du hast es angesprochen: Es ist eine Entwicklung, die sich seit dem ersten Lockdown beobachten lässt. Seither waren nur noch sehr selten Zuschauer zugelassen. Profitieren Spieler wie die genannten davon, dass der Druck, den die leidenschaftlichen Fans über Raunen und Rufen erzeugen, nicht mehr da ist?
Ja, absolut. Es natürlich in den entscheidenden Momenten schon etwas ganz anderes, wenn du vor Zuschauern spielst. Wenn du dann schon vier Darts am Doppel vorbei geballert hast, dann spürst du die Unruhe, die Erwartung hinter dir. Das ist schon gewaltig. Ganz besonders bei der WM, wo das Publikum nochmal ekstatischer ist. Für einen noch nicht so arrivierten Spieler ist der Umgang damit viel schwieriger, als für einen alten Hasen. Dass jetzt keine Fans da sind, hilft manchen Spielern, ihre Spiele bis zum Ende durchzuziehen und zu gewinnen. Man sieht es in diesen Tagen häufiger. Und dass jemand sein Spiel am Ende regelrecht "wegwirft", wie der Engländer sagt, kommt auch seltener vor.
Du hast gerade schon Spieler genannt, die zu den Profiteuren gehören. Siehst du auch Akteure, denen die Zuschauer für ihr bestes Spiel fehlen?
Gerwyn Price ist auf jeden Fall so ein Spieler. Obwohl der natürlich auch ohne Zuschauer derzeit sehr stark spielt und geile Leistungen zeigt. Aber er ist auf jeden Fall jemand, der davon profitiert, wenn Fans in der Halle sind. Er braucht das auch, um sich selbst heiß zu machen. Ein weiterer Spieler ist definitiv Michael van Gerwen. Der spielt zwar ebenfalls jetzt eine sehr starke WM, aber in der Zeit nach dem Lockdown hat der für seine Verhältnisse sehr lange gar nichts gerissen. Van Gerwen ist ein Typ, der sich über das Publikum und die Reaktionen richtig hart pushen kann. Beides sind auch Typen, die immer wieder gewaltig mit den Zuschauern interagieren.
Deutschlands Topspieler Gabriel Clemens gehört jetzt eher nicht in diese Kategorie. Er wirkt sehr introvertiert. Wäre das Wunder gegen Wright auch vor Zuschauern in einem ausverkauften Ally Pally möglich gewesen?
Das wäre definitiv schwieriger gewesen. Dann hättest du nämlich diese angesprochenen Momente gehabt, die für einen abgezockten Spieler leichter zu händeln sind. Gerade wenn du in den Decider gehst und die Zuschauer voll in Ekstase sind. Vermutlich ist es daher also schon so, dass die aktuelle Phase auch einem Spieler wie Gabriel Clemens in diesen Spielen hilft. Aber er hat eben auch die sportliche Qualität, um so ein Spiel zu entscheiden. Das wird er auch im kommenden Jahr wieder zeigen, er wird ein starker Herausforderer sein, auch wenn dann hoffentlich wieder mit Fans gespielt werden kann. Ich sehe eher etwas anderes, woran Clemens arbeiten muss. Immer wieder scheitert er nach Siegen gegen die großen Jungs in der nächsten Runde an den etwas kleineren Namen.
War der Sieg von Clemens gegen Wright die größte Überraschung des bisherigen Turniers? Oder siehst du noch was anderes? Und wer hat dich auf der anderen Seite besonders negativ überrascht?
Eine große Enttäuschung ist für mich Ex-Weltmeister Rob Cross. Der hat allerdings auch im ganzen Jahr im Prinzip nichts Vernünftiges gezeigt. Und dass er dann eben in Runde zwei an van Duijvenbode scheitert, im letzten Satz, im letzten Leg, das passt einfach zu den völlig verkorksten Monaten zuletzt. Aber man muss dann auch sagen, dass van Duijvenbode eben auch die Geschichte der WM schreibt. Der Typ hat Anfang des Jahres bei null Pfund Preisgeld angefangen, hatte sich gerade erst die Tour-Karte zurückgeholt. Der war ein Mann aus der vierten, fünften Reihe. Und dann steht der auf einmal im Finale des Grand Prix. Das ist echt Wahnsinn. Und alles andere als ein One-Hit-Wonder, wie wir jetzt sehen. Aber klar, auch der Sieg von Clemens gegen Wright ist vor allem für das deutsche Darts ein Meilenstein.
Weitere Enttäuschungen oder Überraschungen?
Was für Cross gilt, gilt im Prinzip auch für Wright. Und dann ist da noch der "Bully Boy" Michael Smith. Sein WM-Auftritt war eine Vollkatastrophe. Wenn der sich mental stabilisiert, dann ist das ein Spieler, der durch so ein Turnier durchwalzen, der alles gewinnen kann. Aber mit seiner negativen Art und Ausstrahlung nimmt er sich immer wieder selbst aus den Spielen und macht seinen Gegner gleichzeitig stark.
Wer mich noch sehr überrascht hat, ist Stephen Bunting. Der kam so komplett aus der kalten Hose, weil der eigentlich zuletzt auch gar nichts gerissen hatte. Und jetzt steht er im Viertelfinale. Das ist aber auch so ein bisschen typisch für eine Darts-WM, weil wir da immer wieder so ein, zwei Namen unter den letzten Acht haben, bei denen man sich fragt: Wie kommen die denn dahin ?
Früh gescheitert ist wieder einmal Max Hopp. Was ist da eigentlich los?
Erstmal muss man sagen, dass er bereits zum achten Mal in neun Jahren bei der WM dabei war. Das ist schon außergewöhnlich. Bei seiner ersten Teilnahme war er gerade mal 16! Klar ist auch, es fehlt immer noch so der ganz große Durchbruch. Er hatte 2018 mal dieses Jahr, wo er das EM-Halbfinale spielt, wo er in der Weltrangliste richtig weit nach vorne gespült wurde. Daraus konnte er aber kein Kapital schlagen und ist wieder klar zurückgefallen. Vielleicht wird Hopp immer ein Spieler aus der zweiten Reihe bleiben, aber er ist eben auch immer noch sehr jung, das darf man nicht vergessen. Und es ist doch auch so: In diesem Jahr, in diesem Spiel gegen Mervyn King, wäre fast jeder Spieler rausgeflogen. King war an dem Abend richtig, richtig stark.
Was unterscheidet die Karrieren von Hopp und Clemens?
Das ist ganz einfach: Bei Clemens ist einfach eine sehr konsequente und stetige Entwicklung zu erkennen. Deswegen ist er jetzt auch verdientermaßen die deutsche Nummer eins. Hopp hat dagegen zu viele Wellenbewegungen drin. Auf starke Phasen folgen dann zu oft schwache Phasen.
Dann bleibt abschließend nur noch die Frage: Wer wird Weltmeister?
Vor dem Turnier habe ich Price gesagt und dabei bleibe ich auch. Price spielt einfach so ein typisches Weltmeister-Turnier bislang. Der läuft da nicht souverän durch, spielt keine absurden 110er-Averages und knallt jeden Gegner zu Null weg. Ne, der hatte gegen Brandon Dolan oder gegen Jamie Lewis auch schon richtig schwierige Momente zu überstehen. Das erinnert mich an Peter Wrights Weg zum Titel im vergangenen Jahr. Natürlich ist da auch noch van Gerwen. Aber der Rest? Den sehe ich nicht. "MvG" muss nur vor Dauerbrüller Price Angst haben. Dave Chisnall hat immer wieder Mega-Auftritte dabei, wie jetzt im Achtelfinale gegen Van den Bergh. Aber da folgt häufig totaler Brei. Der gewinnt einfach keine großen Turniere. Und Gary Anderson, der motzt sich ja im Prinzip nur durchs Turnier. Da fehlt mir der Fokus.
Na gut, dann doch noch eine letzte Frage: Was kratzt den Anderson denn so?
Gary ist ein Darts-Purist. Der will nur Darts spielen, dem gefällt die Entwicklung nicht, dass jetzt auch so ein paar taktische Spielchen gespielt werden. Diese Art der Verlangsamung von Mensur Suljovic oder dieses aggressive Gebrülle von Price. Aber grundsätzlich muss man sagen: Jeder Sport wandelt sich ja mit der Zeit und entwickelt sich. Und wenn man mit 50 noch mit den Top-Jungs mithalten will, dann muss man so ein bisschen mit der Zeit auch mitgehen. Also ich glaube, dieses Gemecker ist so ein bisschen Kompensation, so ein bisschen der Style eines José Mourinho, der ja auch immer, wenn's nicht so richtig läuft, irgendwelche anderen Kriegsherde aufmacht. Aber wenn das dazu führt, dass er kämpferisch rausgeht und wie vorgestern im Interview verkündet, dass er noch zehn Jahre spielt, dann ist das doch geil. Also von daher kann man es auch positiv sehen.
Mit Kevin Schulte sprach Tobias Nordmann
Quelle: ntv.de
Tags: