Wenn Robert Habeck Kanzler wäre …

  15 Januar 2021    Gelesen: 1969
Wenn Robert Habeck Kanzler wäre …

"Von hier an anders" heißt das neue Werk des möglichen Kanzlerkandidaten Habeck. Es ist gewissermaßen das Buch zum Film einer grünen Regierungsführung. Interessant sind vor allem Habecks Gedanken über die Zumutungen konsequenter Umwelt- und Klimapolitik für das Land und seine Menschen.

Robert Habeck hat ein Buch geschrieben. Das ist nicht so außergewöhnlich bei einem Politiker, der seit vielen Jahren, zusammen mit seiner Frau Andrea Paluch, Romane sowie Kinder- und Jugendbücher schreibt. Aber es ist Habecks zweites politisches Buch, das er allein verfasst hat. Wichtiger noch: Es könnte sein letztes sein, bevor der Co-Vorsitzende von Bündnis 90/Grüne im Frühjahr deren Spitzenkandidat zur Bundestagswahl wird. Dass die Grünen nach drei Jahren mit Habeck und Annalena Baerbock an der Parteispitze überhaupt gute Chancen haben, im Herbst Regierungsverantwortung im Bund zu übernehmen, verleiht seinem neuestem Werk Relevanz über das Lager der Habeck-Fans hinaus.

Der Doktor der Philosophie liefert mit "Von hier an anders - Eine politische Skizze" gewissermaßen das Buch zum Film, der nach Wunsch der Grünen in diesem Jahr Premiere feiern soll: die Wahl des ersten Bundeskanzlers der Grünen. Oder, natürlich, der ersten grünen Bundeskanzlerin. Dabei handelt es sich, anders als es der Titel verspricht, beim Buch eher um eine Sammlung politischer Skizzen, bei der Habeck den plötzlichen Corona-Stillstand zum Anlass nahm, seine Erkenntnisse aus drei Jahren Parteivorsitz und der Pandemie-Erfahrung zusammenzufassen.

Wer ist Habeck und was will er wie erreichen?

Interessant sind vor allem drei Aspekte des Buches: Erstens erfahren die weniger mit Habeck vertrauten Leser vieles über seinen persönlichen Werdegang, den er als einer der letzten Babyboomer - Habeck gehört zum letzten geburtenstarken Jahrgang 1969 - anekdotenhaft mit den gesellschaftlichen Veränderungen seiner Zeit verknüpft. Dabei bekennt sich Habeck gleichermaßen zu den Vorzügen Deutschlands, des Kapitalismus und der Globalisierung.

Zweitens stellt das Buch viele Punkte aus dem im Herbst verabschiedeten Grundsatzprogramm der Grünen vor und bringt die Partei-Agenda in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang - immer streng nach dem Muster Problembeschreibung, Ursachenanalyse und Lösungsvorschlag. Drittens beschreibt Habeck einen neuen Politikstil, den es seines Erachtens braucht, um eine zunehmend zersplitterte und polarisierte Gesellschaft wieder für gemeinsame Werte und Ziele zu begeistern sowie eine gemeinsame Sprache zu finden. Es wäre der Politikstil, an dem sich Robert Habeck wohl als Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland versuchen würde.

Dass ein Kanzler Habeck nicht wenigen Menschen im Land ein Graus wäre, weiß er nur allzu gut. Die Heftigkeit der Ablehnung, die im entgegenschlägt, beschäftigt den Vater von vier Söhnen. "Was repräsentiere ich, das Menschen fantasieren lässt, mich erschießen zu wollen?", fragt Habeck und nimmt die Erfahrung persönlicher Anfeindungen zum Anlass, den Gründen für die Polarisierung des Landes auf den Grund zu gehen.

Kein Fortschritt ohne Verlierer

Eine zentrale Erkenntnis in seinen Überlegungen, die auf persönlichen Erfahrungen genauso fußt wie auf seiner Lektüre von Klassikern und neuen Werken der Sozialwissenschaften, sind die unvermeidlichen Verwerfungen des gesellschaftlichen Fortschritts. Dass die Gesellschaft diverser geworden ist, dass die Informationstechnologie Leben und Arbeiten verändert, dass aus klimapolitischen Gründen anders Energie gewonnen wird, dass sich die Vorstellungen von einer guten Lebensführung in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend verändert haben und sich noch weiter verändern werden, all das habe viele Verlierer produziert: Menschen, die materielle und soziale Sicherheit verloren haben oder zumindest um sie fürchten; Menschen, die sich von Politik und Gesellschaft nicht für ihre Lebensleistung anerkannt oder in ihren berechtigten Ansprüchen gesehen fühlen; Menschen, deren Wertekanon von der Mehrheitsmeinung zur Minderheitenposition geworden ist.

"Wie bringt man nötige Veränderung und die Angst vor ihr zusammen?", fragt Habeck, der frühere Energiewende- und Umweltminister von Schleswig-Holstein, deshalb. Wie gelingt es, "mutig fortschrittliche Politik zu machen, ohne zu ignorieren, dass gerade der Fortschritt und der Mut zur Veränderung Menschen verprellt, abstößt, aufbegehren lässt"? Das ist die große Frage, vor der nicht nur die Grünen im Jahr 2021 stehen, sondern jede Partei, die Regierungsverantwortung übernehmen und Politik machen will. Doch gerade Baerbock, Habeck und Co. wollen den Menschen künftig nicht weniger Veränderungen zumuten, sondern mehr. Was sie selbst gerne mit dem Wort der "sozial-ökologischen Transformation" zu kaschieren versuchen und sich hernach wundern, warum ihre Wähler zwar nicht mehr verdienen als die der anderen großen Parteien, aber deutlich häufiger einen Hochschulabschluss haben.

Auf der Suche nach neuem Gemeinsinn

Wie also lassen sich Mehrheiten für ökonomische Umbrüche finden, die auch Zumutungen mit sich bringen, die aber zur Wahrung der natürlichen Lebensgrundlagen geboten scheinen? "Es geht bei dieser Frage auch darum, ob eine Gesellschaft die Kraft findet, große notwendige Reformen anzugehen, und dafür die notwendige politische Stabilität hat", schreibt Habeck. "Wenn das nicht gelingt, können wir das nächste große Ding, die Klimakrise mindestens so einzubremsen, dass sie beherrschbar bleibt, vergessen. Und dann sind wir als politische Generation gescheitert."

Habeck meint, zwar nicht die genaue Antwort, aber immerhin die richtige Richtung zu kennen, weil er das Land in seinen Jahren als Parteivorsitzender bereist und seine Menschen kennengelernt habe. Er hat dabei, darauf legt er großen Wert, Menschen aus allen Regionen, Schichten und politischen Lagern nicht nur getroffen. Er hat ihnen zugehört. "Es ist schwer zuzuhören, während man predigt", lautet übersetzt ein Zitat aus einem Lied der weltverbessernden Rockgruppe U2, das dem Buch vorangestellt ist.

So will Habeck einerseits die Menschen, gerade auch potenzielle Gegner von Projekten, frühzeitig einbinden, stärker den Dialog und für jedes Vorhaben gesellschaftliche Mehrheiten suchen. Mehrheiten, die sich nicht nur in einer zahlenmäßigen Überlegenheit ausdrücken, sondern die verschiedene gesellschaftliche Gruppen umfassen. Das verlange sehr viel Bereitschaft, zuzuhören, sich selbst zu hinterfragen und Kompromisse zu schließen. "Dennoch liegt hier, auf der grundlegenden Ebene, der Schlüssel für eine neue Kultur der Gemeinsamkeit, für die Macht eines neuen gesellschaftlichen Zentrums."

In der Praxis schwierig

Habeck blendet dabei die Spannung aus, die entsteht, wenn man wie er von vorne führen will, weil seines Erachtens nach Politik gleichzeitig Richtlinien vorgeben und möglichst viele potenzielle Gegner einbinden sollte. Das dürfte im Bundeskanzleramt ein wenig schwieriger sein als aus einem Landesministerium im gemütlichen Schleswig-Holstein. Dass die Zersplitterung der Gesellschaft dadurch abgemildert wird, dass man allen Gruppen zuhört und jeder ihre eigene Wahrheit zubilligt, bleibt zuerst einmal eine These; im Kanzleramt würde sie zur Wette.

Auch andere von Habeck beschriebene politische Lösungsansätze - etwa eine politische Vertiefung der EU samt gemeinsamer Fiskalpolitik, ein entschlossener Kampf der EU gegen Kapital- und Steuerflucht, ein Umbau der EU-Agrarpolitik - verlangen mangels politischer Mehrheiten in Europa schon sehr viel Fantasie. Die Vorhaben, die sich aus dem Grundsatzprogramm der Grünen ergeben, brauchen wiederum sehr, sehr viel Geld - vom massiven Investitionsprogramm für die Infrastruktur über deutlich mehr Geld für die Schulen bis hin zum CO2-freien Wirtschaften. Das Geld soll eine Vermögenssteuer und der Kampf gegen Steuervermeidung großer Konzerne einbringen.

Habeck macht keinen Hehl daraus, dass die Dringlichkeit der Probleme zum Wagnis drängt, nicht unbedingt die Aussicht auf Erfolg. So ist das Buch auch Zeugnis eines Politikers, der nach drei Jahren mit ausschließlich parteipolitischen Funktionen wieder gestalten möchte. Habeck will (zusammen)führen. Im Frühjahr wollen die beiden Grünen-Vorsitzenden gemeinsam über die Kanzlerkandidatur entscheiden. Baerbock und ihre Anhänger werden Habecks Ansage mit Interesse vernehmen.

Quelle: ntv.de


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