Englands Neururer droht bittere Premiere

  30 Januar 2021    Gelesen: 749
  Englands Neururer droht bittere Premiere

Altmodischer Wunderheiler: Sam Allardyce ist ein Experte für den englischen Abstiegskampf. Doch seine aktuelle Aufgabe könnte selbst ihn überfordern.

Gerade hat Sam Allardyce ein Kompliment von höchster Stelle bekommen. "Ein Genie" sei der 66 Jahre alte Trainer aus Dudley bei Birmingham, sagte nicht irgendjemand - sondern Pep Guardiola. Eigentlich ist es ja der Katalane, der den Ruf eines Genies trägt, doch vor Manchester Citys Premier-League-Spiel bei dem von Allardyce trainierten Aufsteiger West Bromwich Albion am vergangenen Dienstag würdigte Guardiola den routinierten Kollegen aus gutem Grund: "Er übernimmt immer wieder Vereine, von denen alle denken, es sei vorbei, und holt dann Ergebnisse. Wenn das einmal, zweimal oder dreimal passiert, kann man sagen, es sei Glück. Aber er hat es so oft geschafft."

Allardyce, von allen nur "Big Sam" genannt, hat in der Tat eine besondere Fähigkeit. Er ist der profilierteste Feuerwehrmann im englischen Fußball, der größte Experte für den Abstiegskampf, so eine Art Peter Neururer der Premier League. Irgendwie eine Witzfigur, von der man nicht möchte, dass sie mit dem eigenen Verein in Verbindung gebracht wird, aber eben auch ein Wunderheiler in der Not. Klubs wie die Blackburn Rovers, den AFC Sunderland und Crystal Palace übernahm der einstige Abwehrspieler teilweise in aussichtsloser Lage und hielt sie in der Liga. Noch nie ist Allardyce aus der Premier League abgestiegen.

Seit Mitte Dezember läuft seine aktuelle Rettungsmission. Nach knapp zwei Jahren ist er aus dem Ruhestand zurück gekehrt, und zwar zu den eigenen Wurzeln. 1989 hatte Allardyce bei West Bromwich Albion seinen ersten Trainerposten, damals noch als Assistent. Jetzt wurde er als Nachfolger des einstigen Karlsruhe-Profis Slaven Bilic engagiert, um den Aufsteiger aus dem Black Country, wie die Gegend westlich von Birmingham genannt wird, vor der direkten Rückkehr in die zweitklassige Championship zu bewahren.

Nur Abstiegskampf, "weil ich nicht Allardici heiße"

Die Aufgabe ist undankbar, denn die Baggies sind nach objektiven Maßstäben die schwächste Mannschaft der Premier League, mit dem billigsten Kader aller 20 Teams. Trotzdem konnte Allardyce nicht ablehnen. Zu gerne ist er Trainer: "Dieser Beruf kann einen abnutzten, aber von diesem Beruf weg zu sein, kann es auch. Ich bin recht gesund für mein Alter und kenne den Druck, den diese Aufgabe mit sich bringt", sagt er.

Allardyce gilt als Mann alter Schule. Er hat sich in der Vergangenheit mehrfach abfällig über die vielen Trainer aus dem Ausland in der Premier League geäußert. Seiner Meinung nach hat er wegen seiner britischen Herkunft Nachteile auf dem Arbeitsmarkt: "Ich werde nie einen der Top-Vier-Vereine bekommen, weil ich nicht Allardici heiße, sondern Allardyce", sagte er einst. Sein Fußball ist defensiv geprägt, stets begleitet den Trainer der Vorwurf, nur lange Bälle spielen zu lassen, typisch britisches Kick and Rush. "Fußball aus dem 19. Jahrhundert" hat José Mourinho den Stil seines Kollegen einmal genannt. Dass sich ausgerechnet der portugiesische Meister der finsteren Magie als Hüter des schönen Spiels ausgab, amüsierte sogar Allardyce.

Man macht es sich zu einfach, "Big Sam" als taktischen Dinosaurier abzustempeln. Schon früh integrierte er sportwissenschaftliche Erkenntnisse und Video-Analysen in seine Trainingsarbeit, arbeitete mit innovativem Scouting und zeigte sich bei seinen verschiedenen Stationen immer wieder flexibel in seiner Spielweise. Acht Vereine hat er in der Premier League betreut. Nur vier Trainer haben mehr Spiele in Englands Hochglanz-Liga im Lebenslauf stehen. Das schafft man nicht einfach so. Sein größtes Werk vollbrachte Allardyce mit den Bolton Wanderers, die er um die Jahrtausendwende aus der zweiten Liga bis in den Uefa-Pokal führte, zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte. Noch heute wird die Mannschaft um Jay-Jay Okocha, El Hadji Diouf, Youri Djorkaeff und Fernando Hierro vom Anhang der mittlerweile viertklassigen Wanderers verehrt.

Peinliche Episode als Nationaltrainer

Sein Lebenstraum erfüllte sich für Allardyce 2016, allerdings platzte er auch schnell wieder. Der englische Verband machte ihn nach dem peinlichen Aus der Nationalmannschaft bei der EM in Frankreich zum Trainer der "Three Lions". Nach 67 Tage musste er zurücktreten, weil er Geschäftsleuten beim formlosen Plausch Tipps gegeben hatte, wie sich englische Transferregeln umschiffen lassen, außerdem zog er über seinen Vorgänger Roy Hodgson her. Das Problem: die Geschäftsleute waren getarnte Journalisten. Die Krönung seiner Karriere blieb Allardyce verwehrt, doch in der Premier League ist er immer noch gefragt, wenn irgendwo der Abstieg droht.

Die neue Aufgabe bei West Bromwich Albion könnte allerdings selbst den erfahrensten aller Entfesslungskünstler überfordern. Sieben Punkte schon beträgt der Rückstand des Tabellenvorletzten auf einen Nichtabstiegsplatz. Vor allem die Heimbilanz der Baggies unter Allardyce ist verheerend. In vier Spielen gab es vier Niederlagen, bei einer Tordifferenz von 0:17.

"Falls in den kommenden Tagen nicht etwas Spektakuläres passiert, droht das, was eigentlich der glorreiche Abschluss einer illustren Karriere sein sollte, fürchterlich zu scheitern", ahnt der Mirror - und meint damit, dass Allardyce zum ersten Mal aus der Premier League absteigen könnte. Nicht einmal seine Bewunderer haben ja noch Mitleid mit "Big Sam". Nachdem Pep Guardiola ihn zum Genie erklärt hatte, gewann Manchester City bei West Bromwich Albion 5:0.

Quelle: ntv.de


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