Das Berliner Olympiastadion ist der Sehnsuchtsort aller deutschen Fußballklubs. Einmal dort spielen, am liebsten im Wonnemonat Mai. Dann, wenn regulär das Finale des DFB-Pokals ansteht. Auch wenn es coronabedingt leer sein wird, auch wenn das Finale in dieser Saison für einen Donnerstag terminiert ist, den 13. nämlich. All das stört Christian Neidhart überhaupt nicht: "Ich habe das Hotel in Berlin schon bestellt." Neidhart ist Trainer von Rot-Weiss Essen - und hat allen Grund zum freudigen Überschwang. Sein Team, der Regionalligist, warf den großen Favoriten Bayer 04 Leverkusen aus dem Wettbewerb.
Dank des sensationellen 2:1 n.V. ist klar: Es wird ein völlig neu zusammengestelltes Finale geben. Nach Titelverteidiger FC Bayern ist auch der zweite Vorjahresfinalist raus. Die Pleitenserie der Werkself geht damit weiter. Auf die Flaute in der Fußball-Bundesliga folgt die nächste Schmach. "Ich bin sauer und enttäuscht, dass wir heute Abend nicht gewonnen haben", sagte Trainer Peter Bosz nach Abpfiff.
Dabei sprechen nach dem Spiel alle nüchternen Statistiken für sein Team: Mehr Ballbesitz (59%), dreimal so viele Torschüsse (21 zu 7), doppelt so viele Chancen durch Ecken (8 zu 4). Zudem hatte Leon Bailey mit dem 1:0 vorgelegt, wenn auch erst in der Verlängerung (105.). Kurz darauf drehten Oguzhan Kefkir (108.) und Simon Engelmann (118.) die Partie zugunsten des Viertligisten. "Das ist ein Scheiß-Gefühl", sagte Leverkusens Torwart Lukas Hradecky.
"Wirklich unfassbar"
Sein Gegenüber war heftig am Verbreiten dieses "Scheiß-Gefühls" beteiligt: Essens Torhüter Daniel Davari legte ein brillantes Spiel hin. Das lobte auch sein Trainer Neidhart: Sein Team habe "einen überragenden Davari im Tor, der uns dann auch im Spiel gehalten hat". Mal hatte der die Fingerspitzen noch dran, mal verkürzte er den Schusswinkel entscheidend, mal fuhr er blitzschnell das Bein aus, mal wehrte er den Ball einfach zur Seite ab. Allein in der letzten Minute der regulären Spielzeit konnte Davari die Schüsse von Moussa Diaby und Charles Aranguiz parieren und an den Pfosten lenken.
Der 33-Jährige war nach dem Spiel den Freudentränen nahe: "Was wir als Mannschaft geleistet haben, wirklich unfassbar", sagte er bei Sky. Der in Gießen geborenen iranischen Nationalspieler setzte dabei seine ganz persönliche Erfolgsserie fort - noch nie hat er gegen Leverkusen verloren. Zugegeben, seine beiden Bundesliga-Spiele gegen Bayer mit Eintracht Braunschweig datieren aus der Saison 2013/14 und Davari selbst wollte das gar nicht gelten lassen: "Das ist so weit weg. Ich wusste, dass ich noch nie gegen sie verloren habe, aber das ist lange her. Wir sind in der Regionalliga West und haben gegen eine der besten Mannschaften Deutschlands gespielt. Das ist unfassbar." Doch in besonderen Situationen zählen auch arg konstruierte Statistiken.
"Besseres Drehbuch kann man nicht schreiben"
Eine weitere spricht dabei deutlich stärker für Essen: RWE bleibt mit diesem Sensations-Erfolg auch im 33. Pflichtspiel innerhalb eines Jahres ungeschlagen. Mit einem Spiel und nur zwei Punkten weniger liegt der Traditionsverein in der Regionalliga West hinter Dortmund II auf Tabellenplatz zwei. Im Pokal hatte der Cup-Sieger von 1953 mit Arminia Bielefeld und Fortuna Düsseldorf bereits einen Erst- sowie einen Zweitligisten aus dem Wettbewerb gekickt.
"Ein besseres Drehbuch für so ein Spiel kann man nicht schreiben. Wir sind mega stolz auf die Jungs", sagte Neidhart. Mit dem jüngsten Erfolg löste der Klub eine stadtweite Euphorie aus. Viele Fans verbrachten die Abendstunden auf den Straßen der Stadt: Autokorso, Hupkonzerte, Jubelarien, Pyro-Abbrennen - Rot-Weiss elektrisiert ganz Essen. Die Pandemie rückte dabei offenbar zumindest bei einigen ins Vergessen, die Polizei leitete insgesamt 27 Ermittlungsverfahren gegen Feiernde ein. Doch das Fazit des Polizeisprechers war trotzdem wohlwollend: "Insgesamt ist es ruhig geblieben."
Nach der Party ist vor dem nächsten Spiel und so denkt Vorstandschef Marcus Uhlig schon weiter: an die Auslosung des Viertelfinals. "Wenn noch ein schlagbarer Zweitligist dabei bleibt, hätte ich den gerne." Dabei muss sich sein Verein nicht einmal vor vermeintlich unschlagbaren Erstligisten verstecken.
Quelle: ntv.de
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