EU-Beitrittskandidat Türkei: Wandel durch Annäherung

  12 März 2016    Gelesen: 765
EU-Beitrittskandidat Türkei: Wandel durch Annäherung
In der Flüchtlingskrise ist Europa auf die Türkei angewiesen. Das ist keine Katastrophe, sondern eine Chance. Die EU muss sie nutzen.
Als Kanzlerin Angela Merkel nach dem Gipfel zu Beginn der Woche gefragt wurde, wie sie es denn mit dem EU-Beitritt der Türkei hält, schluckte sie erst einmal schwer. Kurz zuvor hatte der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu von der EU gefordert, endlich den Beitrittsprozess voranzutreiben. Die Botschaft war klar: Europa kommt an der Türkei nicht mehr vorbei, sie wird künftig öfter in Brüssel mit am Tisch sitzen, und langfristig will Ankara als gleichberechtigter Partner dabei sein.

Die Kanzlerin gab dann eine Antwort, in der viel von der strategischen Bedeutung der Türkei die Rede war. Der Ausdruck "privilegierte Partnerschaft", der einmal Merkels Position zum türkischen Beitrittsbegehr beschrieben hatte, kam nicht vor. Merkel konnte es sich schlicht nicht mehr leisten, den Türken einen Platz in der zweiten Reihe anzubieten.
Offensichtlich ist die Türkei sehr weit davon entfernt, die Bedingungen für einen EU-Beitritt zu erfüllen. Vieles steht dem im Weg: der Krieg gegen die Kurden im Südosten des Landes, die Verfolgung von Oppositionellen, die Unterdrückung der Pressefreiheit, Erdogans Versuche, demokratische Prozesse auszuhebeln, um die eigene Macht zu erhalten.

Endlich ernsthaft verhandeln

Trotzdem bietet das türkische Drängen, jetzt neue Verhandlungskapitel für den Beitritt zu eröffnen, eine Chance, die Europa unbedingt nutzen sollte. Kritik an Menschenrechtsverletzungen oder der Demontage des Rechtsstaats ist nötig, sie allein wird aber nichts ändern. Die intensive Zusammenarbeit mit Ankara, auf die sich Europa in der Flüchtlingskrise einlassen muss, könnte dagegen ein Vertrauen schaffen, auf dessen Grundlage auch Kritik wirkungsvoller wird. Es gibt ein gemeinsames Interesse, Flüchtlingsströme zu kontrollieren und die Krise zu bewältigen.

Vor allem muss Brüssel die Beitrittsverhandlungen endlich ernsthaft betreiben. Weitere Kapitel zu eröffnen, vor allem zu den Themen Justiz und Menschenrechte, könnte genau die Veränderungen in Gang setzen, auf die die türkische Zivilgesellschaft hofft. Zypern hat das lange genug blockiert. Das wäre auch im Interesse der verfolgten türkischen Journalisten und Oppositionellen. Es mag sein, dass Erdogan den Prozess im Moment nur aus Prestigegründen vorantreiben will. Aber die EU hat nichts zu verlieren, wenn sie ihn beim Wort nimmt und darauf besteht, dass Ankara auch liefert. Einen Menschenrechtsrabatt wegen der Flüchtlingskrise kann es dabei selbstverständlich nicht geben.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat Europa es versäumt, die halbautokratisch regierten Mächte an seinen Rändern mit ernsthaften Angeboten für eine Integration an sich zu binden. Europa hat selbst nicht an die russische oder türkische Demokratie geglaubt und sah sich in seinem Misstrauen bestätigt, als beide Länder immer weiter in die Autokratie abrutschten. Die Flüchtlingskrise ist eine Zäsur. Sie gibt der Türkei, ob die EU es will oder nicht, größeres Gewicht in Europa. Wenn die EU das defensiv angeht, schadet sie sich selbst. Begreift sie es als Chance, gibt es zumindest die Aussicht auf Erfolg: Wandel durch Annäherung.

Quelle spiegel.de

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