Was Lucien Favre wohl seit seinem Abschied bei Borussia Dortmund macht? Eine Antwort darauf zu finden, ist gar nicht so leicht. Fußballprofis verraten gerne mal in einer Instagram-Story, was sie gerade treiben, bei einem 63-Jährigen ohne (offizielle) Social-Media-Präsenz ist das deutlich schwieriger. Da gibt es dann eher kein gestelltes Foto aus dem Gartenstuhl oder Trainingsraum. Medienberichten zufolge lehnte der Schweizer jüngst ein Angebot von Olympique Marseille ab und so bleibt der BVB-Coach mit dem besten Punkteschnitt (2,01) seit Thomas Tuchel (2,12) vermutlich mindestens bis zum Sommer vereinslos.
Knapp zwei Monate ist die Entlassung her, sein Name soll aber noch immer über den Trainingsplatz geistern. Was wäre, wenn Favre geblieben wäre? Nach der 1:2-Niederlage beim SC Freiburg soll dieses Gedankenspiel die BVB-Profis umtreiben, so berichtet die "Sport Bild". Mit Nachfolger Edin Terzic gewann die Borussia nur sechs der elf Spiele, verlor aber eben auch vier.
In der Kabine soll nun bemängelt werden, wie Terzic sich öffentlich kritisch gibt, aber intern versucht, zu viel Positives aus diesen Niederlagen hervorzuheben, statt Fehler klar zu benennen. Etwas, was unter dem kühlen Analytiker Favre selten passiert ist. Andererseits sorgten auch Mats Hummels und Emre Can beim Sport-Club für befremdliche Auftritte, als sie nach der bereits achten Bundesliga-Niederlage (eine mehr als in der gesamten Vorsaison) die bedrohliche Lage der Borussen minutenlang im TV schönredeten.
Hamann warnt vor "Untrainierbarkeit"
Aber die Zweifel am Trainer sind nicht das größte Problem. Nachdem das Ziel, die neunjährige Dauer-Meisterfeier des FC Bayern zu unterbrechen, unerreichbar scheint, droht sogar die Champions-League-Qualifikation zu scheitern. Das gab es in den vergangenen zehn Saisons nur einmal. Und als würde das nicht schon genügend aufs schwarz-gelbe Gemüt drücken, könnte es noch schlimmer werden. Der BVB müsse aufpassen, dass die Mannschaft langfristig nicht untrainierbar werde, warnte Ex-Nationalspieler und Sky-Experte Dietmar Hamann. Sonst würde der Kader einen Trainer nach dem anderen scheitern lassen.
Dabei hätte doch alles so gut werden können. Als Terzic die Dortmunder im Dezember 2020 übernahm, fand er direkt den Weg ins schwarz-gelbe Herz: "Es gibt zwei Arten, wie man ein Fußballspiel gewinnen kann: Zu versuchen, ein Tor weniger zu kassieren als der Gegner. Ich bin aber eher dafür, dass wir ein Tor mehr schießen als der Gegner." Eine lange BVB-Vergangenheit und Spektakel-Fußball: Saß da etwa der neue Jürgen Klopp, an dem sich jeder Dortmund-Trainer messen lassen muss?
Das Kalkül war vermutlich ein anderes. Die Verantwortlichen der Borussia schielten wohl auch zum ewigen Konkurrenten nach München. Dort wurde im November 2019 auch ein Trainer entlassen, mit dem der Verein, ähnlich wie bei Favre, nicht so richtig warm wurde. Niko Kovac ging, für ihn übernahm der als Cheftrainer unbewährte Hansi Flick. Der Rest ist Geschichte: Der Co-Trainer wird erst zur Interimslösung für ein paar Spiele, danach zur dauerhaften Interimslösung und inzwischen zur erfolgreichen Dauerlösung, die mit dem FC Bayern kurz vor dem sechsten Titel seit Amtsantritt steht.
Natürlich hinkt der Vergleich zwischen Terzic und Flick an mancher Stelle. Während der eine (Flick) als Co-Trainer Weltmeister mit dem DFB-Team wurde, war der andere (Terzic) zwischen seinen Stationen beim BVB Co-Trainer bei Beşiktaş Istanbul und West Ham United. Dennoch: Jemand wie Terzic, der schon vor seinem ersten Spiel eine Klopp-Assoziation hervorgerufen hat, hätte eine Art "Flick-Effekt" auch bei der Borussia auslösen können. Mit ein bisschen Glück hätte der BVB in Ruhe und auf einem Champions-League-Platz nach einem neuen Trainer (Gladbachs Marco Rose gilt als Favorit) Ausschau halten können.
Besorgniserregende Einfallslosigkeit
Doch auf die Aufbruchstimmung folgte das kalte Erwachen. Defensiv leisten sich die Borussen um Mats Hummels immer wieder haarsträubende Fehler und blieben in nur zwei von elf Spielen unter Terzic ohne Gegentor. Auch offensiv ist die Wucht des höchst talentierten Kaders verloren gegangen. Eine Grafik offenbarte nach dem 1:2 gegen Freiburg eine besorgniserregende Einfallslosigkeit. Es zeigt die häufigsten Passstafetten der Borussen. Erling Haaland, der eigentlich die Tore machen sollte, war nur selten ins Spiel einbezogen, genauso wie die zentralen Mittelfeldspieler Marco Reus und Julian Brandt. Der Ball zirkulierte in einer U-Form zwischen den Außenspielern und der Viererkette, fand aber kaum mal den Weg in die Spitze.
Dazu passt auch die Einschätzung von Taktikexperten, dass das klassische Favre-BVB-Tor verloren gegangen ist. Wenn gar nichts mehr ging, chipten Reus oder Brandt zentral vor dem Sechszehner den Ball häufig hinter die Außenverteidiger des Gegners, dort warteten Jadon Sancho oder Giovanni Reyna und flankten von der Grundlinie in den gegnerischen Fünfer, wo nur irgendjemand den Ball über die Linie drücken musste.
Statt des erhofften Aufschwungs gerät nicht nur die finanziell wie sportlich so wichtige Qualifikation für die Königsklasse in Gefahr, die ewige Mentalitätsdebatte wird mit jedem schwachen Auftritt angefacht und selbst die Mannschaft beginnt offenbar zu zweifeln, ob der Trainerwechsel die richtige Entscheidung war. Was der Lizenzspielerchef Sebastian Kehl lobt ("Wir sehen jeden Tag wie Edin Terzic sowohl in fachlicher als auch in emotionaler Hinsicht mit den Spielern arbeitet. Wie akribisch er dabei zu Werke geht und wie klar er Problempunkte offen und ehrlich anspricht"), sieht die Mannschaft wohl anders. Unter Terzic wuchs der Rückstand auf die Tabellenspitze von 6 auf 16 Punkte an. Zudem steht noch eine selbst eingebrockte Torwartdebatte ins Haus, sollte Roman Bürki wieder fit werden. Die Probleme seit dem Abgang von Lucien Favre sind nicht gerade weniger geworden.
Quelle: ntv.de
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