Derbys könne er, hatte Christian Gross im Vorfeld der Bundesliga-Partie zwischen dem FC Schalke 04 und Borussia Dortmund verlauten lassen. Der Coach der Gelsenkirchener habe in seiner Trainerlaufbahn einige erlebt, "in der Schweiz, in Ägypten und in Saudi-Arabien". Und zumeist sei er als Sieger vom Platz gegangen, soweit er sich erinnern könne. Diesmal aber lag er komplett daneben.
Sein größtes - weil bedeutendstes - Derby ging verloren. Mit 0:4 (0:2) unterlagen die Blau-Weißen das erste Kräftemessen dieser beiden Großklubs in einer leeren Gelsenkirchener Arena und trudeln damit weiter ihrem vierten Bundesliga-Abstieg entgegen. Schlimmer noch als die Niederlage allerdings war das, was der 66-jährige Schweizer in Diensten der Knappen von seiner Mannschaft angeboten bekam. Was die Schalker Spieler über weite Strecken der Partie boten, gab keinerlei Anlass zur Hoffnung auf weitere Erstligazugehörigkeit.
"Es ist eine bittere Sache"
Dabei sollte das 98. Aufeinandertreffen der beiden rivalisierenden Revierklubs in der Geschichte der Bundesliga aus Sicht der Gelsenkirchener endlich die erhoffte Initialzündung bringen. Es war so etwas wie der Strohhalm, an den sich Mannschaft, Verantwortliche und die gewaltige Fangemeinde klammerten. Ein Sieg gegen den BVB hätte noch einmal Aufbruchsstimmung auslösen können. Nicht zuletzt auch deshalb hatten sich zahlreiche Fans vor der Arena versammelt und versucht, mit einem Feuerwerk ihrem blau-weißen Kicker-Kollektiv Beine zu machen.
Das war ambitioniert, aber 60.000 Fans im Derbyfieber sind eben durch nichts zu ersetzen. Dass die Stimmung der wenigen Dutzend Anhänger vor Ort nach Spielschluss umkippte und einige von ihnen nur aufgrund massiver Polizeipräsenz vom Sturm auf das Stadion abgehalten werden konnten, gehört zu den traurigen Begleiterscheinungen eines Spiels, dass am Ende wie eine Bankrotterklärung der Knappen wirkte. Die Gegenwehr der Schalker war über weite Strecken überschaubar bis beschämend. "Es ist eine bittere Sache, gegen den Rivalen so hoch zu verlieren", sagte Trainer Gross nach Spielende. "Ich bin sehr enttäuscht, aber dieses Spiel lief heute komplett gegen uns."
Schalke bot Angsthasenfußball
Keine Frage: Die Umstände machen es den Schalkern gegenwärtig nicht leicht. Klaas-Jan Huntelaar fehlte ebenso verletzt wie Mark Uth oder Salif Sané. Kurz vor dem Anpfiff musste auch Winterzugang Shkodran Mustafi passen, für ihn rutschte Bastian Oczipka in die Startelf. Und nach nicht einmal einer halben Stunde fiel auch noch Ralf Fährmann aus, der sich bei einer unglücklichen Aktion eine Muskelzerrung zuzog. Schalke muss gegenwärtig zu viele Nackenschläge verkraften. "Das war in der Summe ein bisschen viel, um zu gewinnen", so Trainer Gross.
Offensichtlich zu viel, denn in einem Duell zweier Bundesliga-Patienten mussten die zunächst einfallslosen Dortmunder nicht viel Aufwand betreiben, um nach müden 42 Spielminuten den verdienten Führungstreffer zu erzielen. Die Gastgeber agierten ohne Selbstvertrauen, spielten Angsthasenfußball und suchten ihr Heil zumeist erfolglos in langen Bällen, mit denen sie das Mittelfeld rasch überbrücken wollten. Der BVB, am Mittwoch in der Champions League in Sevilla erfolgreich, spielte geduldig ohne zu glänzen, wartete auf die Fehler des Gegners, und die Schalker taten ihnen den Gefallen kurz vor dem Pausenpfiff. Benjamin Stambouli legte sich den Ball in Tornähe stümperhaft zu weit vor, Außenspieler Mateu Morey spritzte dazwischen, passte zu Jadon Sancho, der keine Probleme hatte, zur verdienten Führung einzuschieben (42.). Und noch vor der Halbzeit sorgte Erling Haaland als fliegender Norweger für die Vorentscheidung mit einem sehenswerten Seitfallzieher (45.).
Die Treffer drei und vier durch Raphael Guerreiro (60.) und erneut Haaland (79.) komplettierten das traurige Bild, das der FC Schalke 04 im Frühjahr 2021 abgibt, auch wenn Suat Serdar nach 51 Minuten mit seinem Pfostentreffer eine mögliche Wende hätte herbeiführen können. Weil der Gegner aus Dortmund am Ende Kräfte schonend agierte, blieb den Hausherren eine noch drastischere Demütigung als er höchste Derbysieg der Dortmunder beim Erzrivalen seit 56 Jahren erspart. Die folgte dann aber nach dem extrem pünktlichen Schlusspfiff - offenbar hatte auch Referee Daniel Siebert ein Einsehen - , als die Spieler in Schwarz-Gelb vor der verwaisten Gästetribüne ihren Triumph feierten. Danach gab es Mitgefühl seitens der Derbysieger. "Ich kann es zwar nicht beeinflussen, aber ich würde mich freuen, wenn die Schalker in der ersten Liga blieben", sagte BVB-Kapitän Marco Reus nach Spielende. "Mir würde sicher etwas fehlen." Und sein Kollege Emre Can stieß ins selbe Horn, als er sagte: "Ich wünsche mir, dass sie drin bleiben."
Nur ein weiterer Sargnagel
Tatsächlich aber gibt es in diesen Tagen nicht viel, was den Schalkern Zuversicht vermittelt. Nie war dieser Verein mehr 04 als am gestrigen Abend. Mannschaft und Trainer stehen vor einer fast unmöglichen Mission. Die Heimniederlage gegen den BVB war sicher nicht der letzte, aber zumindest ein weiterer Sargnagel. Zwei, drei allerletzte Chancen, den Abstieg noch zu verhindern und den Turnaround zu schaffen, wird es noch geben. Schon an den nächsten beiden Spieltagen geht es gegen den VfB Stuttgart und daheim gegen FSV Mainz 05. Die Verantwortlichen wären aber dennoch gut beraten, schon jetzt für Liga zwei zu planen. Denn mit neun Punkten nach 22 Spieltagen und einem katastrophalen Torverhältnis von 15:56 ist die Luft extrem dünn. 36 Punkte werden noch vergeben, Schalke wird davon wohl mindestens 20 benötigen, um das Unmögliche möglich zu machen. Man fragt sich Ende Februar allein: Wie?
Denn wer aktuell das negative Grundrauschen am Schalker Markt richtig deutet, kann nur zu einem Schluss kommen: dass die Erstligatage der Gelsenkirchener allmählich dem Ende entgegengehen. In der Führungsetage hatte schon unter der Woche Jochen Schneider die Waffen gestreckt. Der glücklose Vorstand Sport und Kommunikation wird im Sommer den Verein verlassen. Zudem muss ein neuer Trainer her, der der Mannschaft in der kommenden Spielzeit - ob in Liga eins oder zwei - ein neues Gesicht verpassen muss. Gemunkelt wird derzeit, dass der in Gelsenkirchen noch immer hoch geschätzte Domenico Tedesco, der schon einmal auf Schalke arbeitete und sein Team damals zur Vize-Meisterschaft führte, zurückkehrt. Dessen Arbeitspapier in Moskau endet im Sommer dieses Jahres. Bis dahin bleibt die Hoffnung das Prinzip. "Wir glauben bis zum bitteren Ende an unsere Chance", so Gross in der Hoffnung, dass das Ende eben nicht bitter wird. Das aber klang gestern Abend weniger nach Zuversicht, als nach den marktüblichen Durchhalteparolen.
Quelle: ntv.de
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