Deutschlands Psychotherapeuten fordern von der Politik einen stärkeren Schutz der Menschen vor psychischen Belastungen durch die Corona-Pandemie. "Neben Ängsten und Depressionen nehmen auch Anspannung und Aggression zu, oft zeigen sie sich, oft werden sie verdrängt", sagte der Präsident der Psychotherapeutenkammer, Dietrich Munz.
"Wenn nun aber der Lockdown trotzdem verlängert und verschärft werden muss, wäre es wichtig, dass nicht nur wirtschaftliche Entschädigung fließt." Vor allem viele Kinder und Jugendliche litten unter dem Lockdown. Sie müssten für ihre Entwicklung eigentlich Alltag mit Gleichaltrigen teilen können. Logopädinnen und Logopäden berichteten bereits von vermehrten Störungen bei der Sprachentwicklung.
Kinder aus sozial benachteiligten Familien seien stärker betroffen. Es müsse jenen, die mit Homeschooling schlecht zurechtkämen, gezielt geholfen werden. "Lehrkräfte wissen nach monatelangem Homeschooling oft genau, welche Schülerinnen und Schüler abdriften." Für diese sollten zusätzliche Betreuungs- und Unterstützungsmöglichkeiten durch Schulpsychologen geschaffen werden.
Betroffene warten bis zu neun Monate auf Behandlung
"Eine Idee wäre, dass Länder und Kommunen den Einsatz von Studierenden auch noch vor einem Abschluss möglich machen. Sie könnten etwa eine Patenschaft für ein Kind übernehmen." Gerade bei wärmeren Temperaturen wären verstärkt Angebote im Freien denkbar.
Insgesamt dürften psychische Erkrankungen spürbar zunehmen, wenn die Pandemie abklingt, sagte Munz. Doch werde Behandlungsbedarf festgestellt, warteten rund 40 Prozent der Patientinnen und Patienten mindestens drei bis neun Monate auf den Beginn einer Behandlung. "Wir haben einfach zu wenig Behandlungsplätze", sagte Munz.
Um das Angebot an Psychotherapie rasch zu vergrößern, sollten auch Privatpraxen bis Ende des Jahres Menschen mit Beschwerden auf Kosten der gesetzlichen Krankenkassen versorgen können. Langfristig müssten mehr Praxen zugelassen werden.
Aggressivität der Menschen nimmt zu
Laut des im März veröffentlichten "Deutschland Barometer Depression" empfanden fast drei Viertel der Bundesbürger die Situation im zweiten Lockdown als bedrückend. Andauernder Lockdown begünstigt nach Ansicht des Kammerpräsidenten aggressiveres Verhalten - doch man könne etwas dagegen machen. "Stress bringt immer eine Zunahme von Aggressionspotenzial mit sich." Unkontrollierbare Angst bedeute Stress.
"Deshalb führt die Aktivierung durch Angst bei vielen zur Aggressivität - gegenüber Mitmenschen, bei manchen auch gegenüber der Politik oder sogar der Wissenschaft, die uns das vermeintlich alles eingebrockt hat", sagte er. Laut "Depressions-Barometer" halten 46 Prozent der Bundesbürger Mitmenschen für rücksichtsloser als im Lockdown Anfang 2020. Munz betonte, Stress und Aggression könnten durch Bewegung abgebaut werden.
Von der Einsamkeit in der Pandemie sind vor allem Singles betroffen. Aber nicht nur Rückzug und Alleinsein sind ein Problem. "Bei vielen Paaren und Familien erzeugt die Enge oft Stress", sagte Munz. "Unter normalen Umständen pendeln wir zwischen Nähe und Distanz." Es gebe viele Hinweise über mehr Gewalt und sexuelle Übergriffe in Familien schon im ersten Lockdown. "Stärkere Aufklärung zur Vermeidung von psychischer Anspannung und aggressiven Auseinandersetzungen wäre wichtig."
Quelle: ntv.de, spl/dpa
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