ntv.de: Herr Apweiler, noch vor Beginn der dritten Welle haben Sie errechnet, dass die bundesweite Inzidenz Anfang April bei bis zu 400 liegen könnte. Ganz so schlimm ist es nicht gekommen. Was haben wir richtig gemacht?
Rolf Apweiler: Die Situation ist längst nicht so gut, wie es aussieht. Die berichteten Inzidenzen hängen natürlich davon ab, wie viel getestet wird. In den Osterferien haben wir eine kräftige Abnahme bei der Zahl der Tests gesehen - um etwa 20 Prozent. Die Positivenrate, die Rate der positiven Tests, ist im gleichen Zeitraum von 9 auf 12 Prozent gestiegen. Hätte man sie stabil gehalten durch ausreichende Testungen, wäre die Inzidenz etwa 30 bis 40 Prozent höher gewesen. Dieses Underreporting [die lückenhafte Berichterstattung über tatsächliche Fälle, Anm. d. Red.] führt dazu, dass die Inzidenzen kaum vergleichbar sind. Wenn man nicht testet, kann man auch nichts berichten. Die aktuellen Zahlen sind also trügerisch.
Lässt sich so ein Feiertags- oder Ferieneffekt im Vorfeld nicht berechnen?
Natürlich könnte man einberechnen, wie stark die Inzidenzen durch reduzierte Testzahlen an den Feiertagen runtergehen. Aber das kann tatsächlich niemand im Voraus wissen. Was wir eigentlich abbilden wollen, sind ja die gegenwärtigen Infektionszahlen. Die haben wir aber nicht. Stattdessen nutzen wir die Inzidenz als Parameter, weil sie den realen Zahlen am nächsten kommt. Aber auch die Inzidenz bildet ja nur die Infektionslage von vor 7 bis 10 Tagen ab. Das kann an Feiertagen zu einem trügerischen Bild führen. Denn wenn die Testzahlen sinken, während die Positivenrate steigt, ist das ein Hinweis darauf, dass das Dunkelfeld größer wird. Wir berichten also weniger Infizierte, als wir tatsächlich haben.
Experten fordern, sich von der Inzidenz als Richtwert zu lösen. Wäre die Positivenrate ein Indikator, an dem wir uns stärker orientieren sollten?
Grundsätzlich gilt: Wenn die Testzahlen gleich bleiben und die Positivenrate steigt, nehmen die Infektionen zu. Bleiben die Testzahlen gleich, während die Positivenrate sinkt, ist man auf dem Weg zu einer verbesserten Lage. Auf jeden Fall sollte die Positivenrate nicht höher als 5 Prozent liegen, damit das Dunkelfeld der nicht erfassten und berichteten Infektionsfälle nicht zu groß wird. Zum Vergleich: In Großbritannien liegt sie aktuell nur bei 0,3 Prozent. Dort gibt es kaum Underreporting.
Könnte man auch andere Daten als Grundlage nehmen?
Natürlich sollte man sich auch an anderen Daten orientieren - etwa den Hospitalisierungen, der Altersverteilung der Inzidenzen, den Todesraten, usw. Aber das wird bei den zuständigen Behörden schon getan.
Von der Politik hat man diesen Eindruck nicht.
Schon aus praktischen Gründen sehe ich für die Politik keine Alternative zur Inzidenz als den wichtigsten Richtwert. Sie ist der früheste einigermaßen verlässliche Parameter, den wir haben. Wenn wir uns nur die Hospitalisierungen anschauen, liegen wir etwa zwei Wochen hinter dem aktuellen Infektionsgeschehen zurück. Schauen wir auf die Neubelegung der Intensivbetten, sind es schon fast drei Wochen. Die Politik muss in der aktuellen Situation aber möglichst rasch reagieren. Und ich kenne keine bessere Methode im Moment als die Orientierung an der Inzidenz - bei allen Unzulänglichkeiten, die es sicher auch gibt.
Im Moment steigen die Fallzahlen rapide an - heute auf fast 30.000. Sind das nur Nachmeldungen oder kündigt sich da eine neue Dynamik der dritten Welle an?
Die Situation ist ganz klar: Wir hatten künstlich niedrige Zahlen durch weniger Tests rund um die Feiertage. Der Anstieg der Inzidenz und der Positivenrate in den Tests beweist aber eine starke Aufwärtsdynamik. Sie ist nur verdeckt worden über die Osterferien. Das macht das Ganze noch bedrohlicher. Wenn man sich die Informationen des RKI zur Verteilung der Mutation B.1.1.7 im Land anschaut, wird das Geamtinzidenzbild dominiert durch diejenigen Kreise, wo der Anteil der Mutation besonders hoch ist. Es gibt aber viele Kreise, die noch eine niedrigere Inzidenz haben - weil B.1.1.7 dort noch relativ wenig verbreitet ist. Bei über der Hälfte der Kreise scheint der Anteil der Mutation noch unter 50 Prozent zu liegen. Wir sehen also immer noch den Anfang der flächendeckenden Ausbreitung von B.1.1.7 im Land. Vielen Kreisen steht das Schlimmste erst bevor. Diese Gefährdungslage kann man nicht wegdiskutieren.
Breitet sich B.1.1.7 so schnell aus, wie Sie befürchtet haben?
Überraschenderweise nicht in der Fläche, nicht in allen Kreisen der Bundesrepublik. Warum das so ist, kann ich nur spekulieren. Aber die reduzierte Mobilität der Leute scheint die Verbreitung über das ganze Land verlangsamt zu haben. Das heißt natürlich nicht, dass wir deshalb in diesen Gebieten auf der sicheren Seite wären. Wo die Mutation einmal Fuß gefasst hat, breitet sie sich so schnell aus, wie es auch modelliert worden war.
Welchen Einfluss könnte denn P.1 auf das Pandemiegeschehen in Deutschland haben?
Im Moment ist das noch kein Problem. Aber wir müssen solche Fälle jetzt und in Zukunft schnell aufspüren, weil es sich wahrscheinlich um eine Fluchtvariante handelt, bei der der Impfschutz nicht so gut ist. Deshalb ist die genomsequenzbasierte Überwachung auch so wichtig. Wir müssen alle Positivproben flächendeckend und schneller sequenzieren. Das ist im Moment noch unzureichend.
Die fehlende Überwachung und den mangelhaften Datenaustausch hatten Sie schon vor Monaten kritisiert. Hat sich denn gar nichts getan in der Zwischenzeit?
Man müsste wesentlich mehr testen - vor allem mit Schnelltests. In Dänemark darf niemand auf Arbeit gehen, ohne ein negatives Testergebnis innerhalb der letzten 72 Stunden nachweisen zu können. Gleichzeitig gehen dort die Ergebnisse der Schnelltests digital unmittelbar an die Corona-App und die Gesundheitsämter. Dieser Datenaustausch dauert in Deutschland viel zu lange. Zwar kann man die Schnelltest-Ergebnisse inzwischen auch hier in die App einspeisen, aber die Gesundheitsämter erhalten noch immer keinerlei Information über die Testergebnisse. Dafür fehlt nach wie vor ein Konzept. Und jeder Tag zählt. Wir müssen die Zeit verkürzen zwischen Test, Ergebnis, Melden und Nachverfolgen. Nur dann können wir die Infektionsketten frühzeitig unterbrechen.
Das Infektionsschutzgesetz sieht härtere bundesweite Maßnahmen vor - greifen werden diese aber wahrscheinlich erst Ende April. Ist es dann zu spät?
Es ist mittlerweile unvermeidlich, dass die Zahlen in den Hospitälern und den Intensivstationen einen Höchststand erreichen werden - die Frage ist nur, wie hoch. Das ist wirklich traurig. An Großbritannien haben wir schon vor drei Monaten gesehen, dass wir, wenn wir nicht ganz schnell auf die Bremse treten, in eine solche Situation kommen werden. Aber wir haben diese Zeit nicht genutzt. Und das wird sich rächen. Durch die Verzögerungen werden unnötig viele Leute in den Krankenhäusern landen, und unnötig viele Leute werden sterben. Viele Erkrankte werden langfristige Schäden davon tragen, die vermeidbar gewesen wären.
Mit Rolf Apweiler sprach Judith Görs
Quelle: ntv.de
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