Gesamtinzidenz zunehmend sinnlos

  16 April 2021    Gelesen: 2234
  Gesamtinzidenz zunehmend sinnlos

Die Gesamtinzidenz als Richtwert für Corona-Maßnahmen zu verwenden, verliert zunehmend an Aussagekraft. Der Grund dafür ist die wachsende Zahl an Impfungen, die nicht herausgerechnet werden. So bilden die Fallzahlen das Infektionsgeschehen immer positiver ab als es in Wirklichkeit ist.

Wenn das Infektionsschutzgesetz so wie von der Regierung beschlossen umgesetzt wird, gelten Inzidenzen von 100 oder 200 als alleinige Grenzwerte, bei denen Maßnahmen ergriffen oder Lockerungen möglich werden. Dies wird von vielen Seiten kritisiert, vor allem da andere Faktoren wie tatsächlich Erkrankte oder die Auslastung von Intensivstationen nicht berücksichtigt werden. Im Prinzip geht es den Kritikern darum, dass die Inzidenzen die Lage möglicherweise überdramatisieren. Es könnte aber auch das genaue Gegenteil der Fall sein, nämlich dass die verwendeten Inzidenzen das Infektionsgeschehen harmloser aussehen lassen als es tatsächlich ist. So oder so scheint ein differenzierterer Blick auf die Fallzahlen dringend geboten zu sein.

Bisher hat's funktioniert

Die wöchentlich registrierten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner als Entscheidungsbasis heranzuziehen, ist relativ unkompliziert und das Prinzip hat sich in der Vergangenheit wohl auch bewährt. Zwar wurde auch schon im Sommer und Herbst immer wieder gesagt, der Wert sei nicht aussagekräftig genug. Doch die auf steigende Inzidenzen direkt folgende Zunahme von Intensiv- und Todesfällen hat gezeigt, dass die Fallzahlen als einziges echtes Frühwarnsystem funktionieren.

Doch es stimmt schon, inzwischen hat sich einiges geändert. Unter anderem haben die Ärzte dazugelernt, es gibt neue Behandlungsmethoden und vor allem wird jetzt geimpft. Das hat zur Folge, dass in den Krankenhäusern weniger Personal durch Ansteckungen ausfällt und die Todesraten deutlich gesunken sind, da mit den über 80-Jährigen die vulnerabelste Gruppe weitgehend geschützt wird.

Die zunehmende Impfquote führt aber auch dazu, dass die Berechnung der Inzidenz auf Basis der Gesamtbevölkerung zunehmend an Aussagekraft verliert beziehungsweise ein verzerrtes Bild des Infektionsgeschehens bietet. Physikerin Viola Priesemann erklärt dies in einem Twitter-Thread von Taz-Redakteur Malte Kreutzfeld so: "Angenommen 50 Prozent sind geimpft und die Impfung schützt zu 100 Prozent. Dann entspricht eine Inzidenz von 100 in der Gesamtbevölkerung einer Inzidenz von 200 in der ungeimpften Gruppe plus Inzidenz 0 bei den geimpften."

Schon jetzt ein großer Unterschied

Vorausgesetzt, der volle Impfschutz tritt nach der zweiten Dosis ein, würde dies beispielsweise bedeuten, dass in Berlin laut Impfdashboard.de schon 7,6 Prozent der Bevölkerung herausgerechnet werden müssten. Aktuell hat die Hauptstadt rund 3,77 Millionen Einwohner, in den sieben Tagen bis 15. April wurden 5706 Neuinfektionen gemeldet. Daraus ergibt sich für die nicht geimpfte Bevölkerung der Hauptstadt eine tatsächliche Inzidenz von etwa 164 statt der offiziellen 151.

Dabei muss man immer im Hinterkopf haben, dass die "echte Inzidenz" aufgrund von Menschen, die sich bereits infiziert haben und damit wahrscheinlich zumindest teilweise immun sind, noch höher ist. Von der Dunkelziffer der nicht erkannten Ansteckungen ganz zu schweigen. Bezieht man für Berlin die 143 610 (3,8 Prozent) als "genesen" geltenden Menschen in die Rechnung ein, ergibt sich bei den Ungeimpften eine Inzidenz von etwa 171.

Auch so ist der Unterschied zwischen offizieller und tatsächlicher Inzidenz schon groß genug. Und wenn die Impfungen weiter an Fahrt aufnehmen, hat die Inzidenz, die für alle Corona-Maßnahmen entscheidend ist, mit der Wirklichkeit absolut nichts mehr zu tun. Hätten heute schon 25 Prozent der Berliner den vollen Impfschutz, dann läge die "versteckte" Inzidenz bereits bei 183. Im Laufe der kommenden Wochen und Monate beschönigt die offizielle Inzidenz das Infektionsgeschehen also immer mehr, was die sogenannte Notbremse bei einer Inzidenz von 100 zur Farce macht.

Inzidenz bei ungeimpften über 80-Jährigen enorm hoch

Seit vergangenen Dezember sind die offiziellen Inzidenzen der über 80-Jährigen stetig zurückgegangen und haben auch in den vergangenen Wochen kaum zugenommen. Bei den 80- bis 84-Jährigen beträgt sie aktuell 59, bei den 85- bis 89-Jährigen 68 und bei den noch älteren Menschen 93.

Das sind auf den ersten Blick im Vergleich zur deutschen Gesamtinzidenz von 160 erfreuliche Zahlen. Doch weil die Impfquote in diesen Altersgruppen sehr hoch ist, muss die Inzidenz unter den über 80-Jährigen ohne Impfschutz enorm sein. Rund 5,6 Millionen Menschen sind in Deutschland über 80 Jahre alt. Wie viele davon geimpft sind, gibt das RKI im Impf-Dashboard seit dem 31. März nicht mehr an. Geschätzt könnten es aktuell 80 Prozent sein.

In der vergangenen Woche hat das RKI bei den über 80-Jährigen 3769 Neuinfektionen gezählt. Bei einer Impfquote von 80 Prozent fanden die Ansteckungen unter nur 1,12 Millionen ungeimpften Senioren statt. Ihre tatsächliche Inzidenz liegt daher bei über 335. Auf knapp 67 kommt man, wenn man die Impfungen nicht herausrechnet.

Bereinigte Inzidenzen gutes Messinstrument

Ansonsten sind die Inzidenzen der Altersgruppen unter 80 Jahren noch ein guter Anhaltspunkt, bis auch bei ihnen die Impfungen Fahrt aufnehmen. Es läge also nahe, wenigstens diese Werte als Basis von Corona-Maßnahmen heranzuziehen, wenn man sich schon nicht die Mühe machen möchte, die Impfungen aus der Gesamtinzidenz herauszurechnen.

Möchte man einen Überblick haben, ob man die Pandemie im Griff hat oder nicht, sind die bereinigten Inzidenzen die bessere Alternative. Viola Priesemann drückt es so aus: Bliebe die Anzahl der Kontakte gleich, sinke durch Impfungen die Inzidenz, schreibt sie. Stiegen die Inzidenzen trotz zunehmender Impfungen oder blieben sie unverändert, wisse man, dass zu viele Kontakte stattfinden. So wie es jetzt gehandhabt wird, haben niedrigere oder sinkende Inzidenzen dagegen immer weniger zu bedeuten.

Quelle: ntv.de


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